Auf zu den Polen

In „Elf Arten, das Eis zu brechen“ hält Hans Christoph Buch zwischen seinen Reisen zu den Kältepolen bei der Familiengeschichte inne

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Hans Christoph Buchs Büchern brennt häufig die Sonne vom blanken Himmel herunter. Er hat Haiti, Kuba und Afrika viele Male auf ausgedehnten Reisen besucht. Dabei sind ihm immer wieder Armut, Hunger und Flucht begegnet, die er literarisch eingefangen hat. Mit Haiti verbinden ihn zudem familiäre Beziehungen, wovon er in seinem neusten Buch erzählt. Unter dem Titel Elf Arten, das Eis zu brechen setzt er sie in einen kontrapunktischen Rahmen: zwei Reisen in die südliche Antarktis und ins nördliche Eismeer.

Vielleicht war es bloß die überraschende Offerte, die den Erzähler in die Antarktis lockte. Anlässlich eines Empfangs in einer Botschaftsresidenz zu Beginn der 1990er Jahre unterbreitete ihm ein argentinischer Korvettenkapitän den Vorschlag, mit der Armada Argentina an den Südpol zu fahren und ja, vielleicht sogar zum „Pol der relativen Unzugänglichkeit“ vorzustoßen, jenem imaginären Ort, der am weitesten von jeglicher Zivilisation entfernt ist.

Zwei Jahrzehnte später besucht ein Ornithologe namens Hans Busch den entgegengesetzten Pol, genau genommen eine Landecke namens Ultima Thule im nördlichsten Grönland, wo auch Biografien unvermittelt im ewigen Eis abbrechen können. Der besagte Hans Busch behauptet steif und fest, ein Typ namens H.C. Buch halte ihn für sein Alter Ego. Den Beweis bleibt er freilich schuldig. Was die beiden verbindet, sind nicht nur ihre Reisen ins Packeis. Hans Busch trifft im Norden auf Skuas, Raubmöwen, die nachweislich den weiten Weg vom Süd- an den Nordpol zurücklegen und bereits H.C. Buch in der Antarktis begegnet waren.

In diesen weiten Rahmen spannt der Autor Hans Christoph Buch in seinem neuen Roman eine Fülle von Geschichten und Begebenheiten, in der für ihn charakteristischen Mischung aus Selbsterleben, journalistischer Recherchen und literarischer Fiktion. Es gibt elf Arten, das Eis zu brechen, wird ihm auf dem argentinischen Eisbrecher Almirante Irizar erklärt. Es kann durch leichtes Schlingern des Schiffes erzeugt werden, oder durch hartes Anfahren, um die homogene Packeisfläche zu lockern und zu Schollen aufzuwerfen, wie wir sie von Caspar David Friedrichs Gemälde her kennen. Mal sachte schlingernd, mal hart anfahrend pflügt sich auch H.C. Buch durch das Packeis seiner Geschichten, um schließlich zum magnetischen Pol seiner Erinnerungen zu gelangen.

Mit „Wer bin ich?“, „Woher komme ich?“, Wohin gehe ich?“ sind die drei Kapitel des Buches überschrieben. Das Ich – der Autor ebenso wie sein gleichnamiger Protagonist – reist nach Russland, in den Kaukasus, nach Kambodscha, um vom Alltag inmitten von Verfolgung, Krieg und Terror zu erzählen und von mysteriösen Dingen, die ihm widerfahren. An Leib und Leben ist er nicht gefährdet, aber diese Erfahrungen prägen sich ihm ein. Seine Reisebewegungen umkreisen dabei ein Epizentrum, das er auf Haiti findet: die eigene Herkunft.

„Jede Familie birgt ein dunkles Geheimnis“, im Fall von H.C. Buch ist es der ehemalige Verlobte seiner Tante, Willy Schlieker mit Namen. Er verlobte sich 1937 in Port-au-Prince „mit einem Fräulein Jeanne Buch, Tochter des hiesigen reichsdeutschen Apothekers Wilhelm Buch, dessen Frau Mulattin ist“. Sicherheitshalber hielt er Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt in Berlin, wo man eine derartige Verbindung unter arischen Gesichtspunkten für unerwünscht erklärte. Die Verlobung wurde wieder gelöst und Willy Schlieker machte stattdessen Karriere unter Albert Speer.

H.C. Buch konnte 1984 in seinen Roman Die Hochzeit von Port-au-Prince noch nichts von dieser familiären Verstrickung wissen. Als ob er es damals schon geahnt hätte, „fällt auf, wie nah die satirische Überspitzung der Wirklichkeit kommt“. Der Autor zieht für sich daraus den produktionsästhetischen Schluss: „Die Wirklichkeit ist ein müder Abklatsch der Literatur, eine Kopie aus zweiter und dritter Hand“. Deshalb pendeln seine Bücher permanent zwischen Realität und Fiktion – Matante Jeanne würde „Lüge“ zu letzterer sagen.

Mit dem Haiti-Kapitel ist der familiäre Giftschrank geöffnet, aus dem ein Hauch von Tausendjährigem Reich weht. Im besagten Jahr 1937 war H.C. Buchs Vater nach Deutschland zurückgekehrt, um eine Stelle als Rechtsberater in einem Stahlwerk anzutreten. 1944 kam sein Sohn in Wetzlar zu Welt. Das Verhältnis zwischen Sohn und Vater sollte bis zu dessen Tod 2009 nie eng und herzlich werden. Den Fragen aber, die zurückgeblieben sind, will der Sohn nun genauer auf den Grund gehen. Sachlich abwägend schildert er den beruflichen Werdegang des Vaters. Dazwischen schieben sich immer wieder raffende Passagen in Kursivschrift, die den Autor im inneren Selbstgespräch zeigen: ein hartes, peinliches Abwägen zwischen Schuld und Unschuld, das seine Schatten im Nachhinein auf die eigene Existenz, das eigene antifaschistische Engagement wirft. „Alles schön und gut – aber wie erklärst du den Hitlergruß am Ende eines langen Briefes …“

Die Zweifel sind nicht leicht auszuräumen. „Vielleicht habe ich meinen Vater deshalb so geliebt, weil er die meiste Zeit über abwesend war“, schreibt er und erinnert sich dabei auch an die Mutter als eine Abwesende. Ihr Gehirntumor, ihre Malerei, die Kindheit im Nebel des Verdrängten, Lektüren und Träume – all das gerät ineinander und ruft weitere Schatten der Vergangenheit hervor. Wie viel Vergangenheit steckt in mir, fragt der Erzähler. Und: Wer bin ich eigentlich?

In seinen insgesamt elf Versuchen, das Packeis der drei Grundfragen zu brechen, erweist sich Hans Christoph Buch als gewiefter Autor, der weiß, wie eine gute Geschichte erzählt wird. Sein behutsames Abwägen zwischen Gewissheit und Ahnung behält stets etwas Schlingerndes und Aufwühlendes, wodurch die Fixierung auf die eigene Biografie immer wieder aufgebrochen wird. Er hält die Identität seiner Figur namens Hans Christoph Buch alias H.C. Buch alias Hans Busch listig in der Schwebe.

Ein Zitat von Jules Verne steht dem Buch voran: „Der Eisberg wurde für mich zu einer Person, und je lichter er wurde, desto stärker fühlte ich so etwas wie Verlust, ja Vergänglichkeit.“ Hans Christoph Buch bricht in diesem Roman das Packeis der eigenen Biografie mit Mitteln der ‚magischen Reportage‘, die eine stilprägende Eigenart seines Werks darstellen.

Unter der Hand wird das Packeis mit seiner Wucht und Gewalt auch zur Gegenmetapher des Schiffbruchs, den Buch 2013 in seine Berner Poesievorlesungen unter dem Titel Boat People. Literatur als Geisterschiff eingearbeitet hat.

Titelbild

Hans Christoph Buch: Elf Arten, das Eis zu brechen. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2016.
253 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002305

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