„Hundert Gedichte“ – zwei unterschiedliche Lyrik-Anthologien

Zum 60. Todestag von Bertolt Brecht

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Er war einer der einflussreichsten deutschen Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts. Mit seinem epischen Theater übte er einen bedeutenden Einfluss auf das gesamte Theaterschaffen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus und er gehört bis heute zu den meistgespielten Bühnenautoren der Welt. Sein lyrisches Werk, das immerhin weit über 2.000 Texte umfasst, stand dagegen immer im Schatten seiner Theaterarbeit, obwohl es schon zu Lebzeiten zahlreiche Wertschätzungen gab. So erklärte Hannah Arendt bereits 1950, „dass Bertolt Brecht der größte lebende deutsche Lyriker ist“. 20 Jahre später wagte Marcel Reich-Ranicki sogar die Prognose: „Bleiben wird von Bertolt Brecht vornehmlich die Lyrik.“

Trotzdem überwiegen bis heute in der Brecht-Forschung noch immer die Arbeiten zum „Stückeschreiber“. Brecht aber selbst wies bereits 1926 auf den unterschiedlichen Charakter seiner Dramatik und seiner Lyrik hin: „Meine Lyrik hat mehr privaten Charakter. […] Im Drama hingegen gebe ich nicht meine private Stimmung, sondern gleichsam die Stimmung der Welt. Mit anderen Worten: eine objektiv angeschaute Sache.“

Brechts Lyrik ist also der Schlüssel zu seiner Person und seinem Werk. Keine Lyrik des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch eine größere Vielfalt aus, denn Brecht hat hier neue Themen, Anspielungen, Formen und Techniken ausprobiert. Das Spektrum seines lyrischen Schaffens reicht von witzigen Kindergedichten über erotische und reflektierende Sonette, Songtexte für Stücke, Balladen, Pamphlete, Liebes- Lehr- und Exilgedichte bis zur Propaganda-Lyrik. Brechts Gedichte waren immer Ausdruck seines Zeiterlebens.

Diese lyrische Vielfalt und Breite der Brechtʼschen Lyrik versuchten in der Vergangenheit zahlreiche Auswahlbände einzufangen. Dabei ist es erstaunlich, dass gerade zwei schmale Bändchen, jeweils mit dem bescheidenen Titel „Hundert Gedichte“, die größte Resonanz fanden. Die erste Sammlung wählte Anfang der 1950er-Jahre der Verleger Wieland Herzfelde aus. Sie wurde von Bertolt Brecht autorisiert und erschien 1951 im Berliner Aufbau Verlag unter dem Titel „Hundert Gedichte 1918–1950“. Herzfelde und Brecht verzichteten hier bewusst auf ‚komplizierte‘ Lyrik, sondern übernahmen vorwiegend die ‚einfache‘.

Über das „Unter-einen-Hut-Bringen“ seiner Gedichte in einer Anthologie äußerte sich Brecht in einem Brief an Herzfelde aber durchaus kritisch:

Der Hut, unter den sie gemeinsam gebracht werden, ist der Hut des Verfassers, in meinem Fall die Mütze. Aber dies ist auch gefährlich, die vorliegenden Gedichte mögen mich beschreiben, aber sie sind nicht zu diesem Zweck geschrieben. Es handelt sich nicht darum, ‘den Dichter kennenzulernen‘, sondern die Welt und jene, mit denen zusammen er sie zu genießen und zu verändern sucht.

In dem Querschnitt von 1951 dominieren liedhafte und erzählende Gedichte wie Chroniken und Balladen, dazu Lieder aus seinen Stücken, aber auch Zeit- und Exilgedichte. Für die Ausgabe hatte Brecht speziell das Gedicht „Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“ geschrieben:

Die Schlechten fürchten deine Klaue.
Die Guten freuen sich deiner Grazie.
Derlei
Hörte ich gern
Von meinem Vers.

Dieses Epigramm stellt das Motto der „Hundert Gedichte“ dar. Die Anthologie erschien zunächst mit einem einfachen grauen Schutzumschlag. Ab der zweiten Auflage wurde das Gedicht auf der Rückseite des Umschlages abgedruckt, gedacht als programmatische Einführung. Außerdem schlug Herzfelde eine Illustration auf der Vorderseite vor: ein kleines Gebilde aus Wurzeln, das einem Tier glich. Dazu gab er die folgende Erläuterung: „Figur aus Wurzeln des Theestrauches, im alten China als Glückstier betrachtet und um so höher bewertet, je weniger Schnitzarbeit sie aufweist.“ Brecht hatte solch eine Figur im amerikanischen Exil erworben. Bei ihm hieß sie immer „Theewurzellöwe“. Die Gestaltung des Schutzumschlages hatte dann der bekannte Grafiker und Fotomontagekünstler John Heartfield (jüngerer Bruder von Wieland Herzfelde) übernommen.

„Hundert Gedichte“, als repräsentativer Querschnitt des lyrischen Werks von 1918 bis 1950, fand in den folgenden Jahrzehnten ein beinahe millionenfaches Lesepublikum – vor allem als Jubiläumsband (Band 100) der bb-Taschenbuchreihe des Aufbau Verlages. Der schmale Band, der zahlreiche Nachauflagen erreichte, war in der DDR gewissermaßen ein lyrisches „Hausbuch“. Pünktlich zum 60. Todestag des Dichters erscheint nun im Aufbau Verlag eine Leinen-Ausgabe der „Hundert Gedichte“.

Notgedrungen fehlten in der Ausgabe von 1951 natürlich Brechts späte Gedichte. Dieses Manko wollte der Verleger Peter Suhrkamp knapp vier Jahrzehnte später mit seiner gleichnamigen Auswahl beseitigen. Bereits 1963 waren in der Bibliothek Suhrkamp (als Band 33) „Bertolt Brechts Gedichte und Lieder“ erschienen. 1988 legte nun Suhrkamp eine weitere Auswahl mit dem Titel „Hundert Gedichte“ vor, ab 1998 als suhrkamp taschenbuch 2800. Einen zusätzlichen Beweggrund für die eigene Auswahl sah Suhrkamp auch darin, dass die Ausgabe von 1951 für ihn „durchaus nicht einseitig, aber doch politisch akzentuiert“ schien.

In beiden Anthologien gibt es zahlreiche Überschneidungen. Es finden sich Gedichte, die längst zum festen Bestandteil der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts gehören, beispielsweise „Choral vom Manne Baal“, „Erinnerung an die Marie A.“, „Legende vom toten Soldaten“ oder „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Dem aufmerksamen Lyrikfreund werden die Unterschiede jedoch schnell auffallen. Während in der Herzfelde-Ausgabe Balladen, Kinderlieder, Marginalien und Loblieder reichlich vertreten sind, liegt ein Schwerpunkt der Suhrkamp Ausgabe auf den Liedern aus den Stücken. Darüber hinaus wurden einige Sonette beziehungsweise vereinzelte Gedichte zu Werken von William Shakespeare („Hamlet“), Friedrich Schiller („Die Bürgschaft“), Heinrich von Kleist („Der Prinz von Homburg“) und Immanuel Kant („Metaphysik der Sitten“) aufgenommen. In ihr vermisst man jedoch einige bekannte Brecht-Verse wie zum Beispiel „Vom armen B.B.“, „Kinderkreuzzug“, „O Falladah, die du hangest!“ oder „An meine Landsleute“, während in der Herzfelde-Ausgabe Sonett-Beispiele und natürlich Proben aus den „Buckower Elegien“ (1953) oder den späten „Kinderliedern“ (1956) fehlen. In der Suhrkamp-Ausgabe findet der Leser weiterhin ein Nachwort „Der große Bert Brecht“, in der Peter Suhrkamp einen kurzen historischen Überblick über das lyrische Werk Brechts gibt.

Obwohl die beiden Ausgaben ihre Stärken (und Schwächen) offenbaren, haben sie längst einen Platz in den Bücherschränken der Brecht-Anhänger gefunden. Diese haben außerdem die Gelegenheit, mit den „Gedichten von Bertolt Brecht in einem Band“ (Suhrkamp Verlag, herausgegeben von Elisabeth Hauptmann), sich ihre persönliche Auswahl der „Hundert Gedichte“ selbst zusammenzustellen.

Titelbild

Bertolt Brecht: Hundert Gedichte.
Herausgegeben von Peter Unseld. 8. Auflage.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
188 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783518393000

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Bertolt Brecht: Hundert Gedichte. 1918-1950.
Aufbau Verlag, Berlin 2016.
269 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783351036546

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch