„Heiliger“ oder „Pathologische Erscheinung“?

Verschiedene Zugänge und Perspektiven belegen die verblüffende Aktualität des russischen Schriftstellers Fjodor M. Dostojewskij

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Leben – Werk – Wirkung“ lautet der Untertitel von Rudolf Neuhäusers Buch über Fjodor M. Dostojewskij: Unmissverständlich legt sich der Autor gleich zu Beginn fest: Dostojewskij ist „zweifelsohne von allen russischen Autoren des 19. Jahrhunderts noch heute der aktuellste, modernste und faszinierendste Autor“. Damit werden zugleich Ansprüche geltend gemacht, die umso neugieriger auf deren Einlösung in 15 vorgelegten Essays machen. Sämtliche Beiträge sind im Zeitraum zwischen 1975 und 2010 bereits verstreut publiziert oder unter Zugrundelegung einschlägiger Veröffentlichungen neu überarbeitet worden.

Die Rezeption der 2011 in Moskau erschienenen grundlegenden Dostojewskij-Biografie der Literaturwissenschaftlerin Ljudmila Saraskina ist somit leider nicht mehr aufgenommen worden. Dennoch überzeugt Neuhäusers umfangreiches Rezeptionspensum, mit welchem die vorgelegten Ergebnisse abgesichert sind. Zugleich lässt seine bekömmliche Schreibweise die vorliegende Ausgabe zu einer anregenden Lektüre geraten.

Neuhäuser teilt seine Einlassungen und Studien in die drei übergeordneten Blöcke „Annäherungen“, „Werkstudien“ und „Wirkungsgeschichte“ auf. Trotz der Diversität seiner literaturgeschichtlichen sowie gegenwartsbezogenen Analysen, Exkurse und Untersuchungen bleibt ein innerer Gesamtzusammenhang gewahrt.

Bereits der Titel des ersten Beitrags „Dostojewskij: Ein ‚Heiliger‘ oder eine ‚Pathologische Erscheinung‘?“ zeigt an, dass hier sowohl sympathisierende als auch kritische Zugangsweisen verhandelt werden. Nicht zuletzt die atemberaubende Dichte einer psychologisch austarierten Vielstimmigkeit im Werk Dostojewskijs verbietet jegliche einseitige Zuordnung, vor allem im Sinne eines dichotomischen Weltbildes.

Dostojewskij hat in seinem ungewöhnlichen Leben mit zum Teil abenteuerlichen wie auch lebensbedrohlichen Schicksalsschlägen intellektuelle Wandlungen vollzogen. Neuhäuser wird nicht müde, einen Gesamtzusammenhang im Blick zu behalten, der sowohl dem jungen Revolutionär Dostojewskij als auch dem gereiften, deutlich konservativeren Schriftsteller in ihrer zeitlichen wie auch geistigen Eingebundenheit gerecht wird.

Auch wenn sich Dostojewskij später von den revolutionären Zirkeln seiner Jugend entfernt hatte, wirkte die frühe Begegnung mit den Ideen eines utopischen Sozialismus von Charles Fourier zeitlebens nach. Eine Skepsis gegenüber dem Bourgeois lässt sich in verschiedenen Werken nachweisen, wenngleich sich die Kriterien wandeln. Die angeprangerte Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft kippt später in eine polemische Kritik der verdorbenen westlichen Kultur.

Als durchaus anregend erweisen sich Rudolf Neuhäusers Ergänzungen zum Forschungsansatz Michail Bachtins in dessen nach wie vor bedeutender Monografie „Probleme der Poetik Dostojewskijs“. Bachtin unterscheidet zwischen ideologischen Positionierungen in Dostojewskijs Publizistik und einer bewusst angelegten Polyphonie in dessen künstlerischem Werk. Das künstlerische Werk koppelt sich von seinem Schöpfer ab und zeigt sich in seinem Eigenleben klüger als der Erschaffer. Neuhäuser stellt diese Unterscheidung nicht grundsätzlich in Abrede, belegt aber eindrucksvoll seine These vom „rezeptionssteuerndem Verfahren“, dass der Schriftsteller Dostojewskij sehr wohl, wenn auch in subtiler Weise, weltanschauliche Stellungnahmen literarisch transportiert hat.

In Studien wie etwa „Dostojewskij und Meša Selimović: Prolegomena zu einer vergleichenden Studie“ tritt Rudolf Neuhäuser aus dem unmittelbaren Schatten einer Werkanalyse. Überzeugend gelingt ihm die literarische Konfrontation des russischen Klassikers mit Meša Selimović (1910–1982), einem großartigen bosnischen Schriftsteller, der der serbischen Literatur zugeordnet wird.

Neuhäuser hat sich sein Leben lang in besonderer Weise mit Dostojewskijs Werk beschäftigt, was unter anderem zu einer enormen Textsicherheit geführt hat. Mit der vorliegenden Sammlung ermöglicht Neuhäuser nicht nur authentische Zugänge zu Werk und Wirkung Dostojewskijs, er führt darüber hinaus eine Vielzahl von Anschlussstellen vor, die zum Teil sehr überraschende Einsichten von unmittelbarer zeitgeschichtlicher Aktualität besitzen.

Untersuchungen wie „Die Dostojewskij-Rezeption in Russland (1881 – 2010)“ veranschaulichen eine zuweilen verwirrende Wirkungsgeschichte. Vor allem werden ideologisch motivierte Manöver aufgedeckt, die nicht davor zurückschrecken, im Sinne eines vorgeblichen Patriotismus Dostojewskij schamlos zu instrumentalisieren. Zuweilen unerklärliche Vorgänge in der russischen Welt erfahren hier eine Aufhellung.

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Rudolf Neuhäuser: Fjodor M. Dostojewskij. Leben – Werk – Wirkung. 15 Essays.
Böhlau Verlag, Wien 2013.
260 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783205789253

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