Die wilde Lust auf Glück
Die Kunsthistorikerin Frances Spalding beschreibt das Leben der englischen Malerin Vanessa Bell
Von Katja Hachenberg
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„In ihr verschmolzen drei Göttinnen“, schrieb Leonard Woolf, Mann ihrer jüngeren Schwester Virginia, über Vanessa Bell, „mit etwas mehr Athene und Artemis in ihr und ihrem Gesicht als Aphrodite.“ Und weiter: „Die meisten Stephens hatten eine gewisse Monumentalität, etwas Monolithisches und Unbeugsames […] Es war die eigenartige Kombination von großer Schönheit und weiblichem Charme mit einer Art Versteinerung im Charakter und ihrem sarkastischen Humor, die sie zu einer so faszinierenden Person machte.“
In vierzehn Kapiteln lässt Frances Spalding in ihrer Biografie das Bild einer überaus facettenreichen Persönlichkeit entstehen: Frau, Mutter, Geliebte und Künstlerin, Gründungsmitglied des legendären Bloomsbury-Kreises, dem Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler wie Lytton Strachey, Clive Bell, Duncan Grant, Roger Fry und John Maynard Keynes angehörten, außerdem Virginia und Leonard Woolf, und der einen bedeutenden Beitrag zur kulturellen und ästhetischen Modernisierung Englands leistete. In „Die Welt von Bloomsbury“ beschreibt Pamela Todd, wie die Gruppe von einem komplizierten Beziehungsgeflecht zusammengehalten wurde, das fortwährend in Bewegung war, aber stets verbunden blieb, „verwoben durch Blutsbande, Freundschaft und Ehen, durch Orte und Leidenschaften“.
In Vanessa Bell führt die 2005 für ihre Verdienste um die Literatur von der britischen Krone mit dem Orden des Britischen Empire geehrte Frances Spalding, Kunsthistorikerin, Biografin (und als solche Spezialistin für den Bloomsbury-Kreis) sowie Herausgeberin des renommierten „Burlington Magazine“, ihre Leser in diese beziehungsreiche Welt hinein. 1983 in englischer Sprache erstmals erschienen, erlebte ihre Biografie 2015 eine Neuauflage. Auf Deutsch liegt inzwischen auch ihre jüngste große Biografie Virginia Woolfs vor (Leben, Kunst und Visionen, erschienen im Sieveking Verlag).
Vanessa Bell. Eine Biografie ist im vor zwei Jahren gegründeten Nostrum Verlag erschienen. Verlagsgründerin Susanne Schürmann fungierte hier auch als Übersetzerin des englischen Originaltextes. Bisher erschienen in dem kleinen Verlag lediglich drei weitere Titel: Den Auftakt machte die Übersetzung der Biografie des russisch-französischen Malers Nicolas de Staël von Laurent Greilsamer, es folgten die Notizen eines hässlichen Entleins, eine Übersetzung der Autobiografie des russischen Denkers Grigorij Pomeranz, sowie Briefe von Alberto Giacometti.
Vanessa Bell gelte es hierzulande endlich zu entdecken, heißt es im Info-Text zum Buch. Nicht allein, dass sie die Schwester Virginia Woolfs und Gründungsmitglied des Bloomsbury-Kreises sei, mache ihre Bedeutung aus: Sie führte ein extrem unkonventionelles, zugleich auch privilegiertes Leben, in dem die Malerei immer an erster Stelle stand. Sie war verheiratet, hatte drei Kinder, war der Mittelpunkt eines Freundeskreises, der praktisch aus der gesamten intellektuellen Elite des Landes bestand. Ein Leben lang war sie dem homosexuellen Maler Duncan Grant, dem Vater ihrer Tochter, verbunden, und hielt gleichzeitig ihren Ehemann Clive Bell, Vater ihrer beiden Söhne, sowie ihren Ex-Geliebten Roger Fry in ihrer Nähe.
Als Künstlerin war sie Teil des Aufbruchs der englischen Kunst zur Moderne. Ihr malerisches Werk umfasst eine Vielzahl von Gemälden, die „in reichen Farben das Leben feiern“. Leben und Werk dieser vielschichten Frau der deutschen Leserschaft verfügbar zu machen, ist ein ehrgeiziges und unbedingt anerkennenswertes Projekt. Die Biografie schenkt faszinierende Einblicke in das Verlangen nicht allein Vanessa Bells, sondern einer ganzen Generation, den ästhetisch und emotional restriktiven Vorstellungen der viktorianischen Elterngeneration zu entfliehen. Viel von diesem Befreiungskampf ist in der Lektüre spürbar. Spürbar ist auch, wie lang der Weg gewesen sein muss – von den Anfängen in der Kindheit bis zum Finden und Festigen des eigenen künstlerischen Stils. Beeindruckend ist außerdem das kunst- und kulturhistorische Panorama, das im Text entfaltet wird und die Leserschaft zu intimen Zeugen der Wandlungen von Zeitgeist, ästhetischen Postulaten und kulturellen Paradigmen werden lässt.
So nehmen wir teil an der Ausstellung „Manet und die Postimpressionisten“, eröffnet am 8. November des Jahres 1910 in der Grafton Gallery, die, erstmalig in London, Bilder von Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Paul Cézanne im nennenswerten Umfang zeigte, kuratiert von Roger Fry. Die von der englischen Presse als „Irrenmalerei“ verurteilten Exponate hinterließen bei Virginia Woolf einen tiefen Eindruck, der Besuch der Ausstellung wurde für sie zu einem folgenreichen und nachhaltigen Ereignis. Auch in Bell setzten sie starke Emotionen frei: „Es ist unmöglich, denke ich, dass irgendeine andere einzelne Ausstellung jemals eine solch große Wirkung auf die junge Generation hat haben können wie diese“, schrieb sie. „[…] in dieser wurde plötzlich ein möglicher Weg aufgezeigt, gab es eine plötzliche Befreiung und Ermutigung, eigenständig zu fühlen, was absolut überwältigend war.“ Sie fügt hinzu: „Es war, als könnte man Dinge sagen, die man immer gefühlt hatte, anstatt zu versuchen, Dinge zu sagen, die zu fühlen andere Leute einem nahegelegt hatten. Man bekam die Freiheit, man selbst zu sein, und das ist für die Jugend das aufregendste, was passieren kann.“
Roger Fry, heißt es bei Spalding, wusste um die dahinsiechenden Traditionen und die insulare Isolation, aus der sich die damalige britische Kunst nährte, und brachte mit voller Absicht die überkommenen künstlerischen Standards ins Wanken. Weil aber Kunst ein Vehikel für Ideologie sei, schreibt die Bell-Biografin weiter, habe Fry dadurch, dass er das überkommene Geschmacksurteil provozierte, auch die darin vorhandenen gesellschaftlichen Werte infrage gestellt: „Einem edwardianischen Publikum erschienen die Gemälde dieser französischen Postimpressionisten roh, aggressiv, farblich ordinär, perspektivisch unkorrekt und zeichnerisch unbeholfen. Einige meinten, sie wären das Werk von Verrückten und Pfuschern, aber ihr wütender Hohn wies auf die eigentliche Herausforderung, die diese Bilder darstellten.“
Die Auswirkungen der Ausstellung waren in der ganzen Londoner Society zu spüren. Der Herbst des Jahres 1910, würde Vanessa sich später erinnern, war eine Zeit, in der alles in ein neues Leben zu drängen schien – eine Zeit, in der alles vor Aufregung knisterte, neue Beziehungen, neue Ideen, andere und intensive Gefühle auf ein neues Leben hindrängten: „Vielleicht merkte ich damals gar nicht, in welchen [sic!] Ausmaß Roger das Zentrum von all dem war.“
Die Revolutionierung ästhetischer Vorstellungen kann als Ausdruck einer Verschiebung, die die Wahrnehmung von Wirklichkeit insgesamt betraf, betrachtet werden. Wie die moderne Malerei neue Techniken des Darstellens entwickelte, so brach auch die Literatur mit überkommenen Erzähltraditionen und suchte nach innovativen narrativen Techniken. „Die Methode, glatte Erzählprosa zu schreiben“, notierte Virginia in ihrem Tagebuch, „kann nicht richtig sein; die Dinge spielen sich im eigenen Kopf nicht so ab“.
Die zufällige Begegnung Vanessa Bells mit Roger Fry im Januar 1910 am Bahnhof von Cambridge hätte also zu keiner passenderen Zeit stattfinden können. In der entstehenden Affäre gab Vanessa sich ganz und gar Rogers Ideen hin, teilte seine Begeisterung für die Postimpressionisten und versuchte selbst, in einem neuen Stil zu malen. In der Beziehung mit ihm entfalteten sich auch ihre Sinnlichkeit und sexuelle Leidenschaft.
Vanessa Bell ist die glänzende und bemerkenswerte Biografie einer außergewöhnlichen Frau und Künstlerin, der Roger Fry in einem Brief im September 1917 „Genialität im Leben und in der Kunst“ attestierte. Lord Clark schrieb über sie: „[W]ann immer ich gebeten wurde, etwas Fragwürdiges zu tun, habe ich mich gefragt: ‚Was würde Vanessa sagen?‘“ Virginia Woolf ihrerseits notierte, ihre Schwester führe „vollkommen unbezähmbar ein vernünftiges und sehr sublimes Leben.“ Die komplexe und innige, zum Teil auch rivalisierende, in jedem Fall aber inspirierende Beziehung der Schwestern zueinander wurde unter anderem von Jane Dunn analysiert.
Zunächst mögen die 400 Seiten der Biografie monolithisch und nahezu abweisend erscheinen, da sie in winziger Schriftgröße gedruckt sind – das erste, was auffällt, wenn man das Buch aufschlägt. Nicht gerade eine Einladung zum Lesen! Der monolithische, ja, wissenschaftlich-streng anmutende Charakter, der eine trainierte Leserkondition und ein nicht schnell ermüdendes Auge voraussetzt, könnte abgemildert werden durch Abbildungen. So tritt der Mangel an Bildern besonders auffällig hervor, wenn man sich zeitnah mit Spaldings überaus reich bebildeter Woolf-Biografie beschäftigt. Dennoch: Trotz der eng bedruckten, kaum von Abbildungen (Fotografien, Malereien) unterbrochenen beziehungsweise aufgelockerten Seiten, entfaltet die Biografie ihren eigenen starken Sog und hält einen so bei der Lektüre. Für eine Neuauflage, dies sei abschließend bemerkt, sollte der Text orthografisch überarbeitet werden.