Abkehr von der Faktizität

Grass’ Autobiografie-Bände als „Trilogie der Erinnerung“ neu aufgelegt

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit mehr als einem Jahr ist sie verstummt, die Stimme von Günter Grass. Dabei hätte er sicher viel zu sagen gehabt: zur Flüchtlingskrise, zum deutschen Rechtsruck, zur Lage seiner SPD. Denn kaum jemand hat sich so sehr am Zustand der Bundesrepublik abgearbeitet wie der Literatur-Nobelpreisträger (1927–2015) – und vielleicht hat sich umgekehrt auch Deutschland an niemandem so sehr abgemüht.

Als vor zehn Jahren Beim Häuten der Zwiebel erschien, da war die Debatte um das Buch bald durch ein Geständnis überlagert. Grass hatte als 17-Jähriger in der Waffen-SS gekämpft. Was bis dahin niemand wusste, sorgte nun, 2006, doppelt für Empörung, war der damals 78-Jährige doch über Jahrzehnte hinweg als maßgebliche moralische Instanz des Landes aufgetreten – war doch das Verschweigen in der Bundesrepublik sein Lebensthema. Der Aufschrei war groß.

Den Verkaufszahlen des Buches mag die öffentliche Diskussion gutgetan haben, seiner Rezeption leider weniger. Ja, man darf sogar sagen: Die Debatte hat die Zwiebel vernichtet. Dabei handelt es sich bei dem ersten Teil seiner Autobiografie um eines von Grass’ besten Büchern, vielleicht dem besten seit der Danziger Trilogie. Wie der Autor die Erinnerungen an seine Kindheit bis zum Erscheinen der Blechtrommel 1959 verarbeitet, ist große Literatur. Sprachgewaltig, ausufernd, bildstark. 2006 allerdings – und mit dem SS-Geständnis im Hinterkopf – wurden Grass stattdessen Larmoyanz und Eitelkeit vorgeworfen.

Nach Beim Häuten der Zwiebel folgten zwei weitere Autobiografie-Bände, Die Box und Grimms Wörter. Das hohe Niveau der Zwiebel konnte dieses Duo allerdings nicht halten. Im Mittelstück Die Box ruft der Dichter in einem fiktiven Szenario seine Kinder an den Tisch, immerhin stolze acht an der Zahl. (Grass hatte sechs leibliche von vier Frauen, seine zweite Ehefrau Ute Grunert brachte weitere zwei Söhne mit in die Ehe.) Das Verfahren aber hat sich geändert: Statt konkreter autobiografischer Beschreibung verwebt Grass in der Box Fiktion und Realität. Der Leser muss das Dickicht der Plauderei erst durchdringen, um Hinweise auf den weiteren Lebensweg des Autors zu finden. Eine Maßnahme, die durchaus der Rezeptionsgeschichte der Zwiebel geschuldet sein dürfte, da die reine Faktizität nun durch die Dichtkunst verschlüsselt wird.

Einen dritten Weg beschritt Grass mit Grimms Wörter, in dem er in einer Art Parallelbiografie das Leben der Brüder Grimm seinem eigenen Werdegang an die Seite stellt. Nach den Themenkreisen Jugend und Familie widmet sich der abschließende Autobiografie-Band der politischen und gesellschaftlichen Tätigkeit des Autors. Sogar die Mitgliedschaft in der Waffen-SS wird noch einmal thematisiert, vier Jahre nach der Zwiebel hatte sich der Sturm offenbar ausreichend gelegt. Die Box und Grimms Wörter mögen zwei durchaus lesenswerte Stücke Literatur sein, die zudem mit den magischen Anklängen aufwarten, die das Grass’sche Werk seit den Anfängen begleitet haben. An die Qualität von Beim Häuten der Zwiebel allerdings reichen sie bei Weitem nicht heran.

Dass der Steidl Verlag die drei autobiografischen Bücher noch mal als Trilogie der Erinnerung in einem Band aufgelegt hat, kann sicher nicht schaden. Die Frage nach der Notwendigkeit müssen sich die Göttinger aber gleichwohl gefallen lassen: Während die Neuauflage der Hundejahre vor wenigen Jahren noch in drei großformatigen und reich illustrierten Bänden im Schuber daherkam und schon aufgrund ihrer Pracht bestach, sind im Falle der Trilogie der Erinnerung einfach drei eigenständige Bücher in einem Band hintereinander gebunden worden. Das war’s.

Titelbild

Günter Grass: Trilogie der Erinnerung. Beim Häuten der Zwiebel, Die Box, Grimms Wörter.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
960 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783869309460

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