Der Stoff, aus dem der Alltag ist

Elizabeth Strout macht in ihrem Roman „Die Unvollkommenheit der Liebe“ aus kleinen Anekdoten große Lebensgeschichten

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Aber wer im Roman nicht nur die Kunst sucht, sondern auch ein Abbild des Lebens, wird in diesem Buch klassisches Leseglück finden.“ Das schrieb Eva Menasse in der „Zeit“ über Elizabeth Strouts Roman Mit Blick aufs Meer, dem wohl bekanntesten Buch der Autorin, für das sie den Pulitzerpreis erhielt und das fürs amerikanische Fernsehen mit Frances McDormand prominent verfilmt wurde. Ein Roman der eher leisen Töne, der alltäglichen Begebenheiten und ‚einfachen‘ Menschen, die eher unspektakulär in einer Kleinstadt in Maine leben, erzählt in einzelnen Geschichten, die durch die Titelheldin zusammengehalten werden, die darin jeweils eine mehr oder weniger große Rolle spielt. Geschichten, die in ihrer scheinbaren Beiläufigkeit – wahrhaft episch – das menschliche Leben (allen voran das der Titelfigur) in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Tiefe, Tragik und Komik, Lächerlichkeit und Großartigkeit entfalten.

Dieses Erzählprinzip – das Aneinanderreihen von Geschichten – adaptiert Elizabeth Strout auch für ihren neuen Roman Die Unvollkommenheit der Liebe. Wobei diese Geschichten hier (auf nur 208 Seiten) eher anekdotenhaft daherkommen. Lucy Barton heißt die Protagonistin und Ich-Erzählerin, die rückblickend  einen Krankenhausaufenthalt schildert, der sie nicht nur aus ihrem New Yorker Leben mit Ehemann und zwei kleinen Töchtern herausreißt, sondern auch zu einer Wiederbegegnung mit ihrer Mutter führt. Viele Jahre haben sich die beiden nicht gesehen, denn Lucys Weg führte sie nicht nur weg aus dem ländlichen Illinois ins schillernde New York, sondern auch weg von Armut, Unwissenheit, Stigmatisierung und Gewalt. Mehrere Wochen verbringt Lucy im Krankenhaus mit zum Teil lebensbedrohlichen Symptomen einer Krankheit, von der auch der Leser nicht erfährt, was es damit auf sich hat, und die sie in eine tiefe Krise und große Einsamkeit stürzt. Deshalb ruft ihr Ehemann ihre Mutter zu Hilfe, die fünf Tage und Nächte ununterbrochen an Lucys Bett sitzt. Und diese erzählt: Geschichten von mehr oder weniger flüchtigen Bekannten oder Nachbarn von früher – beiläufig, scheinbar willkürlich und sehr vertraut.

Genauso beiläufig und episodenhaft schildert auch die Erzählerin Lucy Barton Jahre nach diesem Krankenhausaufenthalt  rückblickend (die Töchter sind inzwischen erwachsen, sie selbst befindet sich in einem neuen Lebensabschnitt) ihr New Yorker Leben. Da sind kleine Geschichten über Nachbarn, Erinnerungen an frühere Beziehungen, kurze Gespräche, flüchtige oder auch folgenschwere Begegnungen, wie die mit der Frau in der Boutique, der Schriftstellerin Sarah Payne, die von sich sagt: „Ich schreibe nur, weiter nichts.“ Diese Geschichten wechseln sich ab mit denen, die die Mutter am Bett erzählt. Hinzu kommen Lucys – zumeist schmerzliche – Erinnerungen an ihre Kindheit, die durch die Begegnung mit der Mutter erwachen.

Ganz allmählich entfaltet sich unter diesen beiläufigen Anekdoten das Bild einer schrecklichen Kindheit. Dezent und behutsam und eher in Andeutungen ist von tiefen Verletzungen, Vernachlässigung und traumatischen Erlebnissen die Rede (auch auf Seiten der Eltern und Geschwister) – all das ohne Anklage oder Vorwürfe. Der Ton des Buches ist wie seine Hauptfigur eher sanft, undramatisch und behutsam. Und voller Verständnis für menschliche Schwächen und Unzulänglichkeiten. „Wir armen Menschen“, sagt Lucy an einer Stelle. „Wir möchten nicht so engherzig sein […]. Wir Armen, alle miteinander.“

Lucy, die übrigens Schriftstellerin ist, weiß auch, dass sie nicht nur ihre Geschichte erzählt, sondern die Geschichte vieler: „Vermutlich schlingern die meisten so durch ihr Leben, halb wissend und halb blind, bedrängt von Erinnerungen, die unmöglich wahr sein können.“ Sie weiß auch, dass es beim Versuch, etwas über andere Menschen (hier ihre Mutter) zu erfahren, nicht um Fakten und Daten geht und wie schwierig es ist, zu erfassen, „aus welchem Stoff der Alltag gemacht war“. Genau diesen Alltag spürbar zu machen ist das, was die  Autorin Elizabeth Strout auszeichnet. Sie tut dies auf leise, beiläufige Art, voller Respekt und Mitgefühl für ihre Figuren. Und auch das ist etwas, das die Erzählerin Lucy Barton im Roman erfährt: wie wichtig es ist zu schreiben, ohne zu werten. Sie lernt dies von der bescheidenen, schüchternen Schriftstellerin Sarah Payne, die sie insgesamt dreimal trifft – Begegnungen, die Metaebenen eröffnen und das im Buch Erzählte reflektieren. All das auf so wenigen Seiten – das ist schon eine Kunst.

Titelbild

Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Roth.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
205 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875095

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