Die Tochter des Predigers

Selva Almadas Erstling „Sengender Wind“ hat einen neuen Ton in die Literatur Argentiniens getragen

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sommer, es ist drückend heiß im Chacó, einer entlegenen Region Argentiniens. In diesem Klima, das Langeweile und Trägheit weckt, ziehen sich die Menschen am liebsten ins Innere der Häuser zurück. Unterwegs im sengenden Wind ist ein evangelikaler Prediger mit seiner sechzehnjährigen Tochter Leni, um einen befreundeten Pastor zu besuchen und einem Treffen mit „Gott“ beizuwohnen. Sie fahren in einem klapprigen Auto, aber plötzlich gibt es Probleme, ein Motorschaden, der Wagen muss in eine Werkstatt.  

Dort arbeitet der alte und wortkarge Gringo Brauer, ein Eigenbrötler, schwer hustend, stark rauchend. Ihm hilft ein sechzehnjähriger Junge, den eines Tages eine verflossene Liebschaft bei ihm abgegeben hatte mit den Worten: Dein Sohn. Ob es stimmt oder nicht, weiß er nicht. Der Pastor sieht in dem Heranwachsenden sogleich jemanden, der formbar für die Kirche ist, denn er ist ja noch nicht verdorben von der schnöden Welt. Und seine Aufgabe lautet, immer neue Seelen für die Kirche zu gewinnen. Daher ist er gar nicht traurig, dass die Reparatur ein paar Stunden dauert, dass ein Unwetter aufzieht und eine Weiterreise damit unmöglich wird. Brauer sieht sich genötigt, ihm über Nacht Unterschlupf zu gewähren, obwohl er keine Lust dazu verspürt.

Der Reverend beginnt, verführerische Reden zu schwingen, schließlich gilt er nicht umsonst als Silberzunge. Er ist kaum zu stoppen in seinem Redefluss, erzählt vom Teufel, vom Jüngsten Gericht und vom Dienst an Christus. Der junge Tapioca stellt viele Fragen, hört hingerissen zu …  oder ist er vielleicht eher von der Tochter hingerissen? In Rückblenden erfahren wir, wie der Pastor zu Christus „erweckt“ wurde, wie er zu einem der erfolgreichsten Sektenprediger wurde. Seine Ehefrau hat ihn und die Tochter aus gutem Grund schon vor Jahren verlassen. Der ehrenwerte Pearson hat nämlich durchaus ein Potential zu Gewalt: Sein Verhalten gegenüber seiner Frau macht stumm vor Schrecken. 

Tochter Leni, von ihm abhängig, durchschaut und bewundert ihren Vater, wenn er den Zuhörern vom besseren Jenseits erzählt, an das diese nur zu gerne glauben möchten, ist ihr Diesseits doch mehr als mühsam und beladen. Und Leni weiß, sie hat keine Wahl, sie muss ihn auf den Fahrten durch die Pampa begleiten. Die Chance, einen Jungen ihres Alters zu treffen, mit ihm zu sprechen, ist daher mehr als eine willkommene Abwechslung. Am nächsten Morgen, nach dem schlimmen Gewitter, ziehen Vater und Tochter weiter, mit ihnen der Junge …

Der Roman, in schnörkelloser, poetischer Prosa geschrieben, ist so bildstark, dass der Leser das Flirren der öden Landschaft vor sich sieht. Alles ist realistisch, wird plastisch: der eifernde Prediger, die scheue Tochter, der stumme Mechaniker, der unruhige Junge. Sind es die Hormone oder die Predigten, die ihn das Abenteuer suchen lassen? In Nebensätzen wird der Horror der kargen Provinz anschaulich, die kaum besiedelte Pampa ohne Horizont prägt die Menschen und ihr Verhalten. 

Dieser Erstling von Selva Almada (*1973 in Entre Ríos) ist ein ungewöhnliches Buch, das einen neuen Ton in die Literatur Argentiniens getragen hat. Die auf weniger als 24 Stunden begrenzte Handlung, die klare, starke Sprache, in der jedes Wort wie gemeißelt scheint, die präzis konturierten Personen,  all das erregte Aufsehen und weckt Bewunderung. Zu Recht: die Lektüre dieses schmalen Romans bleibt lange im Gedächtnis haften und man erwartet mit Spannung ein weiteres Werk – zwei sind seitdem in Buenos Aires publiziert worden, beide lohnen die Übersetzung.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Selva Almada: Sengender Wind. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Berenberg Verlag, Berlin 2016.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334040

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