Wie geraten Götter auf Abwege?

Semjon Aron Dreiling untersucht ‚launige Götterbilder‘ in frühneuzeitlichen Bildkünsten und verhilft zu interessanten Einsichten

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Überarbeitung der im Jahre 2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität vorgelegten Dissertationsarbeit verspricht sehr viel – und hält immerhin Einiges. Beginnen wir mit einem Negativaspekt, der zuvorderst technischer Natur ist: Was bereits angesichts des interessanten Buchtitels, vor allem aber auch des wirklich üppigen Preises zu erwarten war, ein angemessener Abbildungsanteil der ‚launigen Götterbilder‘ findet sich bedauerlicher Weise nicht. Zwar gibt es insgesamt 42 Abbildungen, deren Qualität aber vorsichtig formuliert und ungeachtet der Tatsache, dass es sich um teils wohl nicht kolorierte Stiche oder Federzeichnungen handelt, mitunter höher hätte sein müssen. Damit soll es aber zunächst sein Bewenden haben.

Zum Inhalt Folgendes: Wesentlich ist, dass Semjon Aron Dreiling im Wissen um die grundsätzliche De-Kontextualisierung bildlicher Darstellungen antik-mythologischen Inhalts eine konzeptuelle Ordnung vorschlägt, das heißt verschiedene bereits vorhandene Ansätze und Aspekte zusammenführt und eine Struktur vorgibt. Der Autor verfolgt das Ziel, „das heterogene Material ‚launiger Götterbilder‘ erstmals in seiner Vielfalt zu sichten und sodann ausgewählte Bildwerke im Rahmen größerer Motivkomplexe zu kontextualisieren“.

Dabei geht es Dreiling – das Attribut ‚launig‘ verweist ja bereits darauf – in erster Linie um die Thematisierung bildlicher Darstellungen und Adaptionen antiker Mythologie, die nicht nur im engeren, also religiösen Sinne, de-kontextualisiert sind, sondern darüber hinausweisend eine quasi subversive Komponente aufweisen, indem sie zumindest als Parodie, Satire oder gar herrschaftskritische Medien aufgefasst wurden.

Das vorliegende Buch ist nach einer knappen Einführung in den Forschungsstand und Klärung der Begriffsdefinition zu diesem Zweck in zwei Großkomplexe unterteilt: „Bilder und Gegenbilder des Parnass – Der Mythos als Metasprache“ sowie „Der Olymp im Zerrspiegel – Hässliche und verkleidete Götter“.

Der ursprünglich als Ort der positiv-produktiven, geistig-moralischen Ordnung apollinischer Klarheit gedachte Parnass wurde bildlich in seiner nachantiken Rezeption nicht immer nur im Sinne humanistischer Antike-Orientiertheit dargestellt, sondern mitunter auch als ein Raum der Auflösung begriffen, wie Dreiling basierend auf dem Gemälde Lorenzo Lottos „Schlafender Apoll und die Flucht der Musen“ aus den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts darlegt. Der Argumentationsgang und die Ausweitung des Blicks auf weitere bildliche Darstellungen sind durchaus überzeugend, gerade die Qualität der Reproduktion des „Schlafenden Apoll“ ist es definitiv nicht. Kleinformatig in den Fließtext eingebettet lassen sich auf dem dunklen Bild kaum Einzelheiten ausmachen; die Intention des Verfassers, Leserinnen und Leser die ‚argumentative Mitreise‘ durch die Abbildung zu erleichtern ist – zumindest in diesem Falle – leider gescheitert.

Gleichwohl überzeugen die Gedankengänge sowie die Darstellung der Forschungsdiskussion. Dreiling versteht es, gesellschaftliche Rahmenbedingungen in der Entstehungszeit darzulegen und die Brüche verschiedener Erwartungshaltungen beziehungsweise Rezeptionssysteme zu verdeutlichen. Wesentlich hierbei erscheint, und das ist ja auch einer der Aspekte, die die Renaissance respektive den Renaissance-Humanismus auch für uns Heutige so faszinierend erscheinen lässt, dass die Künstler der Frühen Neuzeit ihre Adaptionen antiker Götter und Göttinnen offenbar nicht nur im Sinne einer akademischen Position der Bewunderung angingen.

Neben dem Transportieren und Transponieren intellektuell-kultureller Inhalte können auch Aspekte der Selbstoffenbarung Triebkräfte gewesen sein, die auch in der Gegenwart – das vorliegende Buch beweist es – Interesse, ja zumindest im weitesten Sinne ‚Empathie‘ hervorzurufen vermögen. Auch auf die – wohl kaum originär antike – Möglichkeit, dass sich Künstler in den Götterdarstellungen gewissermaßen kodierten und auch heute noch finden lassen, verweist Dreiling überzeugend. Der Künstler wird so ganz manifest und keineswegs nur in einem übertragenen Sinne zum Apoll, und es ist wohl zuerst Friedrich Nietzsche, der diese Symbiose zwischen menschlichem Künstler und göttlich-apollinischem Genius bricht, die in der Renaissance ihren Ausgang nahm und im klassischen Genie-Kult einen letzten Höhepunkt hatte.

Ist die frühneuzeitliche Darstellung der Parnass-Tradition, folgen wir Dreiling, zwar durchaus gebrochen, dabei aber zumindest immanent positiv besetzt, gilt das für die ‚hässlichen und verkleideten Götter‘ des zweiten Hauptteils so gar nicht mehr. Deutlich wird das an der hübschen Radierung Giovanni Ambrogio Brambillas vom Ende des 16. Jahrhunderts, die ‚acht groteske Götterköpfe‘ zeigt. Hier ist nicht daran zu rütteln, dass nicht irgendwelche Rahmenbedingungen die Unattraktivität der dargestellten Göttinnen und Götter hervorruft, sondern diese in der Tat Zerrbilder sind. Damit erscheint – um im modernen Duktus zu sprechen – der Weg von der reinen De-Kontextualisierung zum Dekonstruieren vollzogen, an dessen Ende über mehrere weitere Stationen schließlich das religionsunabhängige, aufgeklärte Individuum steht. Im bildlichen Beispiel entspricht das etwa der radikalen Dekonstruktion der Fruchtbarkeitsgöttin Ops, die in gängiger Weise in einem Stich von Jacob Binck aus den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts jugendlich und frisch dargestellt ist, in geradezu grotesker Art als alte Frau jenseits jeder Fruchtbarkeitssymbolik im gleichen Zeitraum durch René Boyvin dekonstruiert wird. Mag das womöglich die frühe Dämmerung (post)modernen Jugendwahns gewesen sein?

Mit der visuellen Gegenüberstellung göttlicher und menschlicher Grotesken, die der Autor beispielhaft anführt, wurden die antiken Götter in einen menschlichen Kontext herab geleitet und die Menschen zumindest bildlich erhöht. Diese Selbstapotheose greift Dreiling durch die Einbeziehung adäquater Porträts auf; hervorzuheben sind hier Botticellis „weibliches Idealbildnis“ sowie die Dante-Darstellung desselben Künstlers. In diesem Zusammenhang erweitert der Autor einerseits seine Perspektive, relativiert allerdings dabei, so scheint mir, andererseits die eigene Vorgehensweise, die sich in diesen Momenten nicht mehr exklusiv mit den Götterdarstellungen befasst. Gleichwohl macht gerade dies aber einen Reiz vorliegender Publikation aus, die in solchen Momenten einen Gegenwartsbezug ermöglicht, auch wenn dieser sich anhand satirischer Gesellschaftskritik in der Frühen Neuzeit manifestiert. Es ging selbstverständlich nicht um die Entthronung heidnischer Gottheiten, genauso wenig wie die intentionell ungebrochene künstlerische Darstellung antiker Mythen eine Neo-Paganisierung auslösen sollte. (Durch-)Brechung und Infragestellung antiker Ikonographien ist eben vor allem auch das Hinterfragen gesellschaftlicher Spielregeln der Frühen Neuzeit.

Dieses Changieren zwischen Zeiten und Wahrnehmungsräumen wie auch die Darstellung des künstlerischen Komplexes parodierter antiker Gottheiten und mythologischer Traditionen macht einen wesentlichen Lesereiz des Buches aus. Ein Positiv-Aspekt ist überdies die knapp hundert Seiten umfassende Bibliographie, deren Nutzungswert auch in Zeiten des internetbasierten Recherchierens gerade für ein nicht explizit kunsthistorisch (aus)gebildetes Lesepublikum kaum überschätzt werden kann. Das gilt auch für das, allerdings mit sieben Seiten Umfang recht knapp gehaltene, Register, das umfangreicher und detaillierter hätte ausfallen können. Das Feld der Abbildungen wurde bereits eingangs angesprochen; ich bin mir auch nach mehrfachem Durchblättern nicht ganz schlüssig, ob der ästhetisch durchaus angenehme Auflockerung des Texts durch die ‚eingebetteten‘ Abbildungen nicht doch ein komplexer Abbildungsteil vorzuziehen wäre, der – zumindest war das früher ein Argument für eine entsprechende Vorgehensweise – bei insgesamt besserer Abbildungsqualität vielleicht gar kostensparender gewesen wäre.

Das Buch ist lesenswert und hält die eine oder andere Überraschung über eine eher periphere Region, eben die ‚klassischen Götter auf Abwegen‘ bereit, so dass sich die zumindest auswählende Lektüre auch für Nicht-Fachmenschen durchaus lohnt. Ein nicht wegzudiskutierendes Manko jedoch ist der sehr üppige Preis, der zwangsläufig die Frage nach dem immer wieder im Raum stehenden Preis-Leistungs-Verhältnis aufkommen lässt. Selbst Spezialistinnen und Spezialisten werden sich da sehr schwer tun – einen breiteren Publikumskreis werden die ‚klassischen Götter auf Abwegen‘ wohl nur über Umweg einer Bibliothek erreichen können.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Semjon Aron Dreiling: Die klassischen Götter auf Abwegen. Launige Götterbilder in den italienischen und nordalpinen Bildkünsten der Frühen Neuzeit.
De Gruyter, Berlin 2016.
374 Seiten, 106,95 EUR.
ISBN-13: 9783110427103

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch