Der Chronist des Getöses
Zur kritischen Edition von Ernst Jüngers „Krieg als inneres Erlebnis. Schriften zum Ersten Weltkrieg“
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer 1998 kurz vor Vollendung seines 103. Lebensjahrs verstorbene Ernst Jünger gehört zu den literarischen und sicher auch kulturellen Ausnahmeerscheinungen des katastrophischen 20. Jahrhunderts in Deutschland. Er blieb sein Leben lang seinem ersten großen Thema, dem Ersten Weltkrieg, verhaftet, auch wenn er sich bereits seit den späten 1920er-Jahren anderen Themen zugewandt hatte. Er gilt als einer der zentralen und einflussreichsten Vertreter des Neuen Nationalismus in der Weimarer Republik, der aus dem Krieg direkt gesellschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen versuchte. Eine formierte, hierarchische Gesellschaft, in der der Einzelne einen jeweils spezifischen, seinen Fähigkeiten angemessenen Platz zugewiesen erhalten sollte, schien dieser Gruppe, die im Übrigen auf Distanz zum Nationalsozialismus blieb, die einzig gangbare Möglichkeit zu sein, das Chaos der Moderne zu bewältigen, ohne hinter deren Errungenschaften zurückzufallen.
Der Ruhm Jüngers geht in großem Maße auf seine erste große Schrift, In Stahlgewittern, zurück, die nur mit größten Bedenken als autobiografisch zu bezeichnen ist. 1920 zuerst erschienen, bearbeitete Jünger diesen Text – im Übrigen wie alle seine Texte – beinahe mit jeder neuen Auflage. Eine jüngst, im Jahre 2013, erschienene Edition versucht, diese Bearbeitungsstufen nachzuzeichnen. Die Intensität, mit der sich Jünger diesen Text immer wieder vornahm, ist auch der Grund für den tendenziellen Anachronismus, der der Beschäftigung mit Jüngers Schriften anhaftet: Mit einer Fassung der 1960er-Jahre seine Positionen der 1920er-Jahre zu erfassen, ist schlechterdings unmöglich.
Das lässt sich auch der nun erschienenen kritischen Ausgabe der „autobiografischen“ Schriften Jüngers zum Großen Krieg entnehmen. In diesem Band sind neben den Folgeschriften zu den Stahlgewittern, Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), Das Wäldchen 125 (1925) und Feuer und Blut (1925) auch einige kleinere Texte versammelt: Erinnerungstexte an das Jahr 1917, wie an den Kriegsausbruch sowie drei Ansprachen, die mit dem Krieg im Zusammenhang stehen und die Jünger viele Jahrzehnte später hielt.
Die Bedeutung der drei Schriften aus dem Umfeld der Stahlgewitter ist kaum gering einzuschätzen, auch wenn ihre Wirkung in den 1920er- und 1930er-Jahren beschränkt blieb. Im Unterschied zu den Stahlgewittern, die durch den Kriegsbuchboom Ende der 1920er-Jahre und durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten, denen Jünger vorgeblich nahestand, profitierten, blieben die Auflagen von Der Kampf als inneres Erlebnis, Feuer und Blut und Das Wäldchen 125 relativ klein. Bis zum Jahr 1942 erreichten sie je eine Auflage von 32.000, respektive 37.000 (Feuer und Blut), was angesichts dessen, dass durch die Machtübernahme selbst nachrangige Texte zu Massenauflagen kamen, auffallend ist.
Dennoch sind gerade diese drei Texte für Jüngers Verarbeitung der Kriegserfahrung und Übersetzung in ein politisches Programm von Bedeutung. Sie übernehmen die Aufgabe, das atavistisch-moderne Muster, das Jünger in den Stahlgewittern begonnen hatte zu formulieren, weiter durchzuarbeiten. Der Krieg und insbesondere der Kampf Mann gegen Mann als menschliche, ja männliche und essentielle Kernerfahrung, fundiert eine ganze Gesellschaftsordnung. Um das herauszuarbeiten und seine Texte mehr und mehr zu fokussieren, überarbeitete Jünger seine Texte mal um mal. Insofern sind die Werkvarianten nicht beliebig, sondern als Arbeitsstufen zu verstehen, die einem gemeinsamem, dann im „Arbeiter“ durchformuliertem Denkmuster verpflichtet sind – so brüchig, inkonsistent und widersprüchlich es auch für Leser vor allem des linksliberalen Spektrums gewesen sein mag.
So gedacht ist die Unterordnung dieser Texte unter ein Rubrum „autobiographisch fundierte Texte“ zum Ersten Weltkrieg, das zwar nicht im Untertitel der Ausgabe, aber als Auswahlkriterium gleich im ersten Satz des Vorworts des Herausgebers angeführt wird, zweifelhaft. Auch eine Psychologisierung der Textanstrengungen Jüngers, gar der Verweis auf das Trauma der Kriegserfahrung, wie sie im Vorwort anklingen, führen aufs falsche Gleis, auch wenn Jünger in diesen Texten diese Sicht offensiv selbst nahelegt. Denn vieles deutet im Gegensatz dazu darauf hin, dass es Jünger nicht darum ging, sich das „Erlebnis“ von der Seele zu schreiben oder zu verarbeiten, um dies salopp zu umschreiben. Eindringlichkeit und Ganzheitlichkeit (woher auf einmal die Konjunktur dieser anthroposophischen Vokabel?), die der Herausgeber nun für das „Erlebnis“ des Kampfes anführt, sind für Jüngers Kriegserfahrung nur insofern relevant, als sie seine Fortschreibung von Krieg als Extremform und Folie der Moderne unterstützen.
Ein Blick in die Texte belegt dies. So sind, wenn man das Beispiel von Der Kampf als inneres Erlebnis heranzieht, die Überarbeitungen von der ersten zur zweiten Auflage 1926 deutlich stärker als für spätere Ausgaben. Vor allem für die Ausgabe von 1926 streicht Jünger seitenweise Passagen, die sich auf seine Argumentation störend auswirken könnten. Das autobiografische Material wird noch stärker zugerichtet und soll die Thesen Jüngers noch besser tragen.
Das erhält für die Zeit nach 1933, in der Jünger mehr und mehr auf Distanz zum Nationalsozialismus geht, besondere Brisanz. Die 1925 erschienenen Texte Das Wäldchen 125 und Feuer und Blut erfahren für die Auflagen von 1935 weitreichende redaktionelle Eingriffe, die vor allem aus Kürzungen bestehen. Da es sich dabei um die 6. (Das Wäldchen 125) und 5. Auflage (Feuer und Blut) handelt, lässt sich annehmen, dass Jünger auf die Weiterentwicklung seiner Positionen und das politische Umfeld seiner Publikationen reagierte. Zumindest in Das Wäldchen 125, bei dem für die Auflage um die 800 Textstellen geändert wurden (bei den anderen beiden Texten waren es nur je um 100), sind die Streichungen wenigstens teilweise irritierend und könnten darauf verweisen, dass Jünger nicht nur vorsichtiger zu Werke gehen wollte, um Konflikte mit den NS-Machthabern zu vermeiden, sondern auch eine vorschnelle Zuordnung zum Nationalsozialismus vermeiden wollte. Zumindest ist es bemerkenswert, dass Jünger den preußischen Drill ebenso strich wie seine Bemerkungen zum Arbeiter, der „als Kind der Großstadt beweglich und leicht zu begeistern“ sei und in dessen Mobilisierung „gewaltige Energien“ schlummerten. Dass er auch seine Bemerkungen über den „wilden Genuß“ strich, den die neue Art des Nahkampfes erzeuge, ist gleichfalls irritierend, wie auch seine Streichungen, die den Einsatz der Maschine im Krieg der Gegenwart und der Zukunft betreffen. Dabei fielen auch seine Spekulationen über den Bewegungskrieg weg, die auf das Konzept verweisen, mit dem die Anfangserfolge des NS-Regimes im Zweiten Weltkrieg erklärt werden können.
Auch jene merkwürdigen Sätze über die Schönheit der Maschine, die ursprünglich in Feuer und Blut standen, sind möglicherweise deshalb weggefallen, weil sie nicht opportun oder zu allgemein waren für einen vorgeblichen Erinnerungstext. Im Ganzen erscheint es sogar so, als versuche Jünger seine Abstraktionen, die nicht immer nur positiv für das seinerzeit aktuelle Regime waren, zurückzunehmen und den Text wieder zu repersonalisieren. Für Feuer und Blut war das anscheinend deutlich weniger geboten als für Das Wäldchen 125, das deutlich stärker von der konkreten Situation – dem Kampf um das titelgebende Waldstück – absah.
Dass diese Texte keine Erinnerungstexte sind, sondern das autobiografische Material zielgerichtet verwenden, lässt sich auch an den Zwischentiteln von Der Kampf als inneres Erlebnis erkennen, die eben diesen gliedern. Zwischentitel wie „Blut“, „Grauen“, „Der Graben“, „Eros“, „Mut“ et cetera zeigen bereits an, dass das Material, das Jünger verwendet, nicht der Selbststilisierung dienen sollte, sondern weit über diese Aufgabe der Autobiografie hinausging. Es mag zwar sein, dass Jüngers politische Überlegungen, die den Krieg als Blaupause nehmen, daher rühren, dass er gerade dem Durchschnittsschicksal seiner Soldatenkameraden entkommen war, wie bereits seine Kritiker um 1930 formulierten. Aber, um mit Thomas Mann zu sprechen, in der literarischen Verarbeitung wird aus dem autobiografischen Material etwas anderes, in diesem Fall nicht Kunst, sondern ein Gesellschaftsmodell. Was eben auch auf die bearbeiteten Texte zutrifft, die auf den ersten Blick den autobiografischen Charakter wieder stärkten.
Die von Helmuth Kiesel herausgegebene Ausgabe, die die Reihe der kritischen Ausgaben des Werks Jüngers fortsetzt, bietet hier die Texte in der Fassung erster Hand. Das ist freilich selbst wiederum diskussionswürdig, da es bei Jünger sinnvoll wäre, die jeweilige Fassung in den Vordergrund zu stellen, die ihre wirkungsvollste Variante war. Für die frühen Schriften zum Krieg sind dies wohl die Ausgaben der späten 1920er-Jahre. Allerdings wäre damit jedoch die Verlässlichkeit der Ausgabe eingeschränkt – was darauf hinweist, dass die von den Herausgebern getroffene Wahl tatsächlich klug und fundiert ist.
Wie insgesamt die Verdienste dieser Ausgabe kaum stark genug gewürdigt werden können. Allein, dass die Bearbeitungsstufen nun deutlich erkennbar werden, ist als Erkenntnis kaum überzubewerten. Zwar wird es für die Diskussion der Texte notwendig bleiben, sich für eine Bearbeitungsstufe zu entscheiden – was gegebenenfalls diese Ausgabe nicht zur Referenz aufwerten wird. Die Ausgabe ermöglicht es aber relativ problemlos, sich der Entwicklung der neuralgischen drei Texte zu versichern. Und das ist gerade bei einem Autor wie Jünger sehr viel wert – der in seinen Textbemühungen einem Bertolt Brecht kaum nachstand, wenngleich er nicht nur eine andere politische Position, sondern vielleicht sogar ein geringeres literarisches Niveau erreichte. Freilich, der Spott über Jüngers Stil, den sich bekennende Jünger-Gegner immer wieder erlauben, ist wohlfeil und sieht von seiner Wirkung ab und zugleich davon, dass Jünger eine Extremfigur in einer die Extreme austestenden Welt war. Das erlaubt nicht nur, das verlangt eine Beschäftigung mit diesem Autor und seinem Werk, nicht seine Apologetik.
|
||