Migration in Mittelamerika

Der mexikanische Autor Antonio Ortuño erzählt in seinem Kriminalroman „Die Verbrannten“ von einem Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie bilden eine nie enden wollende Schlange, sie kommen zu Fuß, legen sich auf die Dächer der Züge oder werden in verschlossenen Waggons befördert, sie drängeln sich in Lastwagen, sie fliehen vor der unvorstellbar grausamen Gewalt von Drogenbossen, vor wütenden Jugendgangs wie Maras oder Zetas und auch vor den Polizisten in ihren Heimatländern. Guatemala, Honduras, El Salvador sind zu Synonymen des omnipräsenten Schreckens geworden, von dem es kein Entkommen gibt.

Antonio Ortuño, 1976 in Guadalajara geboren, erzählt von Menschenschmugglern, die im Verbund mit der Drogenmafia und eben auch Polizisten ein oft blutiges Geschäft betreiben. Eine kleine Stadt im Süden Mexikos, Santa Rita, dient als Zwischenstation der Mittelamerikaner auf dem Weg in die USA, wenn sie z.B. aus den übervollen Zügen fliehen, sobald eine Tür geöffnet wird, damit sie etwas Luft bekommen. Dort gibt es eine Notunterkunft, Sozialarbeiter, eine Nationalkommission für Migration, Hilfe vom Staat. Im Städtchen funktioniert im Allgemeinen aber nicht viel: Bewilligte, notwendige Verbesserungen wie die Kanalisierung werden von Bürgermeister zu Bürgermeister verschleppt oder gehen im Korruptionssumpf unter. Immer wieder gibt es mal einen Zwischenfall, ein paar Tote, jede Aufklärung scheint unmöglich, interessiert niemanden. Und wer sich für die Flüchtlinge einsetzt, riskiert möglicherweise das eigene Leben. 

Eines Nachts, zwei Tage vor Weihnachten, kommt er zu einer Katastrophe: Die vor wenigen Tagen angekommenen Flüchtlinge werden in ihrer Unterkunft eingeschlossen, das Wachpersonal geht zu einer Tombola, wo Fernseher verlost werden, dort feiern und betrinken sie sich. Die Migranten werden nun zur Beute dumpfer Gewalt: „Alle haben dunkle Haut.  Sie schlafen. Niemand kann wissen, ob sie träumen. Zum Abendessen hat man ihnen Bohnen, Tortilla, schwarzen Kaffee gegeben, die fünf Tüten Milch mussten sich zwanzig schwache Kinder teilen“.  Molotowcocktails werden in die Unterkunft geworfen, ein Brand bricht aus, es gibt vierzig Tote und Dutzende Verletzte.

Natürlich ist die Regierung entsetzt und verspricht die komplette Aufklärung des Verbrechens. Eine neue Beamtin, Irma, wird aus der Hauptstadt nach Santa Rita versetzt, sie kommt mit ihrer kleinen Tochter, aber ohne Mann, was ungewöhnlich ist. Sie möchte das Leben in der Stadt, ihre Bewohner und die Problematik mit den Flüchtlingen verstehen, den Brand aufklären.

Selbstverständlich stößt sie überall auf Hindernisse: Niemand will ihr wirklich etwas erzählen, niemand hat etwas gesehen oder gehört, sie erfährt nur Misstrauen und Ablehnung, die Machismo-Gesellschaft lässt sich obendrein nicht gerne von Frauen befragen, auch scheinen alle Angst zu haben. Wer hat hier die Macht? Der Staat, die Institutionen, der Bürgermeister, die Polizei? Oder vielmehr Dunkelmänner, Drogengangster, korrupte Dienstleiter? 

Aus unterschiedlichen Erzählperspektiven erzählt Ortuño, wie Irma ihre Untersuchung korrekt vorantreiben möchte, wie eine Überlebende des Brandes und zuvor bereits mehrfach Missbrauchte ganz persönlich Rache nehmen will, weil sie nicht daran glaubt, dass der Brand jemals offiziell aufgeklärt wird. Und auch weil sie weiß, dass die Regierung mit Worthülsen gezielt diese und andere kriminelle Taten verschleiert. Auch ein Journalist, aus der Hauptstadt angereist, was die offiziellen „Ermittler“ beunruhigt, möchte die Hintergründe der Katastrophe herausfinden und darüber berichten, denn er glaubt kein Wort der offiziellen Pressemitteilungen: eine Sisyphusarbeit. Natürlich schwebt er von nun an in Lebensgefahr.   

Eingeschoben werden Monologe, in denen der Vater des Kindes seine Liebesgeschichte mit Irma Revue passieren lässt, wie er sich als Lehrer mit dummen Schülern plagen muss, wie er frustriert von seinem Alltag zwar Kontakt zu seiner Tochter hält, sie ihn aber letztlich nicht interessiert. Als er einer Flüchtlingsfrau erlaubt, bei ihm zu arbeiten, nutzt er sie sogleich als sexuelles Spielzeug für seine Gelüste, Launen und Gewalt, schließt sie zu Hause ein, bis sie eines Tages fliehen kann und dabei seine Ersparnisse und ein paar Wertgegenstände mitnimmt.  

Irma beginnt in ihrer Verlorenheit ein kleines Verhältnis zu einem Arbeitskollegen, aber allmählich entdeckt sie seine kriminellen Machenschaften, sieht, wie ein aus Lügen und Gewalt gebautes Kartenhaus einstürzt. Sie weiß, dass ihr Leben und das der Tochter jetzt nicht mehr sicher sind und flieht, denn sie weiß auch, dass es weder Aufklärung noch Gerechtigkeit geben wird. Nur die „Verbrannte“ aus dem Flüchtlingsheim kann Rache nehmen: Sie legt einen Brand, schließt die Feiernden ein, viele hochrangige Persönlichkeiten von Santa Rita sterben. 

Düsterer kann man die heutige politische Situation in Mexiko kaum beschreiben: Der Staat ist gescheitert, hat vor der Gewalt der Drogenmafias, der Korruption seiner Beamten, der Unfähigkeit seiner Polizei kapituliert. Das weiß jeder Bürger, es gibt zu viele Beispiele dafür – wie z.B. der Mord an den 43 Studenten von Iguala, wo die Verstrickung von organisiertem Verbrechen, Politik und Polizei inzwischen kaum noch geleugnet wird, zu groß war der Protest. Der Zynismus, mit dem Flüchtlinge benutzt, beraubt, missbraucht und umgebracht werden, die zahllosen Massengräber oder Mülldeponien, in denen Frauen in Tijuana (und anderswo) verschwinden, die tödlichen Kämpfe zwischen den unterschiedlichen Gangs: all das prägt Mexiko heute, macht das Leben zur Hölle. Wenn sich ein einzelner Beamter, vielleicht ein Idealist, oder wenn sich ein mutiger Journalist wirklich um Aufklärung von Verbrechen bemüht, riskiert er sein Leben – und das weiß jeder.

Antonio Ortuño hält seiner Gesellschaft, aber auch uns, mit seinem Roman Die Verbrannten einen erschreckenden und doch großartigen Spiegel vor. Die Lektüre ist spannend, schlägt in Bann und lässt dem Leser den Atem stocken. Wir werden mit der brutalen Aktualität konfrontiert und dabei drängt sich immer deutlicher die Frage auf: Gibt es noch Hoffnung, kann Mexiko dieses Problem überhaupt alleine bewältigen, gibt es Lösungen, wo könnten sie liegen? Wäre die Legalisierung der Droge eine mögliche Hilfe, ein Schlüssel zu einer Lösung, wie immer mehr Intellektuelle, Nobelpreisträger, Ex-Regierungschefs und Experten behaupten? Das Thema betrifft alle, daher muss es intensiv und öffentlich diskutiert werden, und dies so schnell wie möglich. Nach der Lektüre dieses schmalen, beeindruckenden Romans besteht daran kein Zweifel.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Antonio Ortuño: Die Verbrannten. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Nora Haller.
Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
206 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140556

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