Eine faszinierende Reise durch die Geschichte einer künstlerischen Familie
Anne Gesthuysens zweiter Roman „Sei mir ein Vater“
Von Christine Wieger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnne Gesthuysen hat mit Sei mir ein Vater eine Familiengeschichte geschrieben, in der ein todkranker Mann ein letztes Rätsel zusammen mit seinen Töchtern löst, für dessen Entschlüsselung sie von Deutschland über Frankreich bis in die Karibik reisen müssen. Dabei geht es auch darum, sich selbst zu finden und Abschied von einem geliebten Menschen zu nehmen.
Hermann Terhöven wohnt am Niederrhein in einem kleinen Dorf. Er leidet an Krebs und hat nur noch wenige Wochen zu leben, weshalb seine aus Paris stammende Ziehtochter Lilie ihn in Deutschland besucht, um sich von ihm zu verabschieden. Lilie war zum ersten Mal vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen; sie lebte während ihres Auslandsjahres bei der Familie Terhöven; schnell wird sie, aus einer zerrütteten Familie stammend und ohne Kontakt zum leiblichen Vater, vom einfachen Gast zum engen Familienmitglied und findet in Hermann den „Vater ihrer Wahl“.
Doch kurz vor ihrer Reise zur einstigen Gastfamilie wurde Lilie in ihrer Pariser Wohnung niedergeschlagen, als sie einen Einbrecher ertappte, der versuchte, ein Bild von George Agutte, einem ihrer Vorfahren, zu stehlen. Dies wirft viele Fragen auf, da George Agutte im Gegensatz zu seiner Tochter Georgette ein unbedeutender Künstler war und das Bild somit keinen materiellen Wert besitzen kann. Da Hermann Krimis liebt, entschließt er sich, die letzten Wochen seines Lebens mit der Suche nach einer Erklärung für den versuchten Raub zu verbringen. Gemeinsam machen sich Hermann, seine Tochter Hanna sowie Ziehtochter Lilie auf den Weg, um Lilies Ahnengeschichte zu erforschen.
Anne Gesthuysen führt ihre Leser durch Zeit und Raum, da sie zwei zu unterschiedlichen Zeiten spielende Erzählstränge parallel zur Darstellung bringt: Da ist einerseits die Lebensgeschichte der Malerin Georgette Agutte-Sembat, die mit ihrem Ehemann, dem Politiker Marcel Sembat, während der Jahrhundertwende lebte. Der Leser folgt dem Ehepaar bei dessen zahlreichen Reisen, vor allem innerhalb Frankreichs, aber auch nach Deutschland, in die Schweiz, nach Belgien, Italien und Ägypten.
Andererseits wird die Geschichte von Hermann, Hanna und Lilie weitererzählt, die sich im Jahre 2007 auf Ahnenforschung begeben und sich auf diese Weise mit dem Leben des Ehepaares Agutte-Sembat auseinandersetzen. Ihre Nachforschungen führen sie vom Niederrhein über Paris, nach Grenoble und schließlich in die Karibik. Mit diesen vielen Ortswechseln weckt Gesthuysen bei ihren LeserInnen die Lust, sich selbst ins Auto zu setzen und wie die Romanfiguren durch die Welt zu reisen.
Die Geschichten des Ehepaares Agutte-Sembat werden aus der Sicht von Georgette erzählt, und die Erlebnisse von Hermann, Hanna und Lilie werden aus Lilies Sicht mitgeteilt. Dies stellt eine Verbindung zwischen den parallel erzählten Geschichten her und unterstreicht die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Georgette und Lilie; der Roman ist mithin auch eine Exkursion durch die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, da das Ehepaar Agutte-Sembat mit den großen Künstlern seiner Zeit wie Pissarro, Renoir, Matisse und Signac bekannt war. Gesthuysen beschreibt anschaulich, wie diese Maler sich der Produktion ihrer Bilder widmen und beim Malen ihre Umwelt völlig vergessen, sodass der Leser das Gefühl hat, dem Schaffensprozess direkt beizuwohnen: „Henri ließ den Pinsel achtlos zu Boden fallen, wo er einen blauen Fleck hinterließ und wie nach einem Akt erschöpft zur Seite rollte, dann rieb sich ihr Freund die Pigmente direkt auf den Daumen und verteilte sie auf die gelbe Wandtafel im Hintergrund, er wischte an den Schatten, er brachte das blaue Kleid unten rechts zum Leuchten, den Bonsaibaum erkannte man plötzlich als solchen, und das Gemälde wurde zu einem Kunstwerk.“
Die Autorin hat, beeinflusst durch ihre eigene Biografie, die durchaus Ähnlichkeiten mit der Figur Hanna Terhöven aufweist, sympathische und authentische Charaktere erschaffen, Menschen mit ,Ecken und Kanten‘, mit Sehnsüchten und Sorgen, mit Humor und Herzlichkeit. Besonders die letzten Lebenstage eines Menschen werden im Buch auf gelungene Weise thematisiert; denn anstatt sich die Decke über den Kopf zu ziehen, entscheidet sich Hermann dafür, ein letztes Abenteuer mit seinen beiden Töchtern zu erleben: „Es ist mein letzter Krimi, und dabei führe ich Regie und spiele die Hauptrolle. Es ist mein Leben, und ich entscheide, wie es zu Ende geht. Wenn du mir eine Freude machen willst, dann hilf mir, statt mir Steine in den Weg zu legen.“
Bei all dem Lachen und dem Reisen von Hermann, Hanna und Lilie, wird der bevorstehende Tod von Hermann weder beschönigt noch als leicht dargestellt, sondern als eine bittersüße Zeit, in der alte Geschichten noch einmal geteilt werden, der Vater sicherstellen möchte, dass seine Töchter in der Zukunft versorgt sind, und versucht wird, die Würde und Lebensqualität eines sterbenden Menschen so lange wie möglich zu bewahren. Mittels dieser Erzählweise gelingt es Gesthuysen, eine realistische Geschichte mit emotionaler Tiefe zu erzählen: „…und sie spürte, wie gut dieses letzte gemeinsame Abenteuer Hanna und Hermann tat. Auch für sie war es tröstlich, sich so intensiv vom Vater ihrer Wahl verabschieden zu können, und Erinnerungen zu sammeln, die für immer bleiben würden.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen