Kleines Land – große Wirkung

Jakob Tanner über die „Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert“ und die künftige Zusammenarbeit der Eidgenossenschaft mit der Europäischen Union

Von Hala DjebaliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hala Djebali

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was verbindet ein Deutscher mit der Schweiz? Eine Frage, die sich keinesfalls auf herrliche Gebirge, ästhetisch verklärbare Landschaften, erholsamen Skiurlaub und ungewohnte Mehrsprachigkeit beschränken lässt; auch Schlagwörter wie Neutralität, Loyalität, Reichtum, Bankengeheimnis, direkte Demokratie, politische Unabhängigkeit, größtes Finanzzentrum Europas und Steueroase laden zum Assoziieren ein. Insbesondere letzterer Aspekt hat an Aktualität noch nicht verloren, da seit der im Juli 2014 vollzogenen Änderung des Steueramtshilfegesetzes noch keine zwei Jahre vergangen sind. Seither ist es den Schweizer Behörden gestattet, die Daten von ‚Steuersündern‘ ohne deren Zustimmung an andere Staaten zu übermitteln. Durch die Existenz sogenannter Briefkastenfirmen bleibt das Thema aber weiterhin aktuell.

Jakob Tanner, Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich, widmet sich in seinem inhaltlich übersichtlich aufgebauten und gut strukturierten Buch, welches in der Reihe ,,Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts“ des C. H. Beck Verlags erschienen ist, der Entstehung, Geschichte, Kultur, finanziellen Entwicklung und dem Nationalismus der föderalen Republik. In dreizehn inhaltlich bezeichneten und zeitlich voneinander abgegrenzten Kapiteln, zu insgesamt drei großen Abschnitten zusammengefasst, richtet sich das Überblickswerk Tanners an eine naturgemäß von der Beck’schen Reihe anvisierte breite Leserschaft aus den Bereichen der Geschichts-, Politik-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaft. Nach einem ausführlichen Vorwort Tanners, indem er die Konzeption seines thesengestützten Werkes beschreibt, beginnt er mit einem historischen Längs- und zugleich Querschnitt der Schweizer Geschichte im 20. Jahrhundert. Ersterer basiert auf einer Unterteilung der historischen Entwicklung in fünf zeitliche Abschnitte, die dann von Tanner als Kulminationspunkte der Schweizer Nationalgeschichte mit der europäischen Gesamtentwicklung (Querschnitt) genutzt werden: das Jahr 1900, die Jahre 1920-25, der Zweite Weltkrieg, die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts sowie die europäische Integration von 1970 bis 1990. Alle Phasen basieren dabei auf Tanners „Sonderwegsthese“, welche den spezifischen gewählten Weg seines Landes in den Vordergrund rückt.

Im ersten Teil des Buches mit dem Titel „Robuster Kleinstaat“ erhält der Leser einen ausführlichen historischen Abriss, der die zum heutigen Status quo führende Entwicklung zusammenfasst. Für das Verständnis aktueller, vor allem politischer Prozesse ist ein Blick ins 18. Jahrhundert erforderlich – die Schweiz entwickelte sich nach der französischen Revolution zu einem patriotischen und neutralen Staat mit einer seit über 100 Jahren unveränderten Verfassung. Seit 1815 vertritt das Nachbarland die Neutralität und ist damit mit Schweden das älteste neutrale Land Europas. Den im Jahr 1850 eingeführten Schweizer Franken als inflationsgeschützte Währung führt die Schweiz bekanntlich auch heute noch.

Im Jahre 1900, welches den ersten Vergleichspunkt des Längst- und Querschnittes Tanners markiert, hebt der Autor die bedeutenden regionalen und sozialen Konflikte (u.a. die Konfrontation der katholisch-konservativen Rechten mit der sozialistischen Linken Partei) in der Schweiz hervor. Daraufhin thematisiert er die erzielten Fortschritte des Landes im Hinblick auf die Stromerzeugung via Wasserkraft und die Elektrifizierung, die mit einer starken Entwicklung des Dienstleistungs- und Finanzsektors von 1920 bis 1925 einherging; die Schweiz war Tanner zufolge im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in ihrer Industrialisierung weiter fortgeschritten; der Einsatz zweier Landkarten trägt zur Nachvollziehbarkeit des historischen Abrisses bei.

Tanners Erläuterungen zum Tourismus, insbesondere angekurbelt durch die Vermarktung der Alpenästhetik, sowie zu den zahlreichen Investitionen des Landes wie etwa in „ein ausgeprägtes Schienennetz“ und in „freie Handelswege“ leiten zum zweiten Teil seiner Darstellung über, in dem die Volkswirtschaft und die nationalen Konflikte der Schweiz unter dem Titel „Bedrohte Nation, offene Volkswirtschaft“ beleuchtet werden. Es wird deutlich, dass das vom Autor dargestellte konstante Wirtschaftswachstum, beginnend mit dem Zweiten Weltkrieg, eng mit seiner politischen Entwicklung verflochten ist, da das Nachbarland auch hier „eine Politik des Freihandels, der Neutralität und der Friedensversicherung betreibt.“ Durch die Gründung der „Bank für Internationalen Zahlungsausgleich“ verstärkte und monopolisierte die Schweiz ihr Ansehen als finanzstärkstes europäisches Land. Der vierten Phase seines Längs- und Querschnittes (1960er Jahre) widmet Tanner sein Kapitel ,,Revolte und Krisen“. Hier schildert er die Protestbewegungen der Schweiz im Hinblick auf das Frauenwahlrecht, die sich an den Protestbewegungen in Westeuropa orientierten.

Im dritten Teil des Buches, betitelt mit „Widerwillige Bewegung“, welches die europäische Integration von 1970 bis 1990 thematisiert, setzt sich Tanner schließlich für die Integration seines Landes in die EU ein. Das ist umso bemerkenswerter, als nach der vorangegangenen Darstellung die politische und wirtschaftliche Stärke des Landes gerade dem eingeschlagenen Sonderweg zu verdanken zu sein scheint. Dies sehr wohl zur Kenntnis nehmend, scheint die Schweizer Bevölkerung keine direkte Notwendigkeit zur Integration in die Europäische Union erkennen. Der Widerstand im eigenen Land ist dementsprechend groß. Der vom Schweizer Autor vorgeschlagene Mittelweg für die Beibehaltung einer stabilen Unabhängigkeit könnte eine noch engere Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU, jedoch ohne eine volle EU-Mitgliedschaft, darstellen. Die grundsätzliche Bereitschaft der Nationalregierung und der dortigen Wirtschaftskreise wurde mit der 2014 verabschiedeten Änderung des Steueramtshilfegesetzes signalisiert – eine Tatsache, die Tanner als ersten Schritt „in die richtige Richtung“ begrüßen dürfte.

Tanners ausführliche und informative Überblicksdarstellung ist durch den guten Aufbau und die sinnvolle Gliederung der einzelnen Kapitel sowie durch die gewählten Stilregister angenehm zu lesen. Im Zuge seines Engagements für eine Ausweitung der Integration seines Landes im Rahmen der EU gerät sein Buch insbesondere auch für Politikwissenschaftler zu einer empfehlenswerten Lektüre.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.
2. Auflage 2015.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
679 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783406683657

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