Nach einer wahren Geschichte oder bloße Fiktion?

In Frankreich gewann Delphine de Vigan 2015 mit „D’après une histoire vraie“ den Prix Renaudot und den Prix Goncourt des Lycéens

Von Tanja SchabackerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Schabacker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dès qu’une vérité depasse cinq lignes, c’est du Roman“ – „Wenn eine Wahrheit die Länge von fünf Zeilen überschreitet, ist sie ein Roman.“ (Jules Renard) An dieses Zitat glaubt die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan laut ihrem Interview mit dem französischen Frauenmagazin Marie Claire aufrichtig. Was ist Wahrheit und was ist Fiktion? Wann fängt eine Autorin an, sich in ihrer Erzählung von der Wahrheit abzuwenden? Inwiefern darf die Autorin überhaupt von der Realität abweichen, ohne dass sich die Leserschaft getäuscht fühlt? Mit diesen Fragen setzt sich de Vigan in ihrem 2015 erschienenen Werk D’après une histoire vraie (Nach einer wahren Geschichte) auseinander – und präsentiert einen Psychothriller, der den Leser dazu bringt, sowohl eigene Handlungen als auch die Aktionen anderer, auf den ersten Blick wohlgesonnener Personen scharf zu hinterfragen. De Vigan schickt ihre Leser auf eine Reise zwischen Fiktion und Autofiktion, wahren Begebenheiten und Erfundenem. In Frankreich wurde das Buch unter anderem mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet; seit dem 17. August 2016 ist die deutsche Übersetzung bei Dumont erhältlich.

„J’avais écrit un livre dont je n’avais pas imaginé la portée“ – „Ich hatte ein Buch geschrieben, dessen Wirkung ich mir nicht erdenken konnte.“ Die Erzählung beginnt ganz simpel: Nachdem sie einen Roman über die Schwierigkeiten mit der eigenen Mutter herausgebracht hat, kann die Protagonistin, die gleichnamige Schriftstellerin Delphine, sich vor dessen positiver Rezeption scheinbar gar nicht mehr retten. Viele Leser meinen, sich in der Protagonistin der Erzählung wiederzuerkennen und beziehen die von Delphine beschriebenen Geschehnisse auf ihr eigenes Leben. Die Leser machen die Geschichte zu etwas völlig anderem: „Le livre était une sorte de miroir, dont la profondeur de champ et les contours ne m’appartenaient plus“ – „Das Buch wurde zu einer Art von Spiegel, dessen Feldtiefe und Konturen nicht mehr zu mir gehörten.“ Dasjenige, was die Menschen in dem Roman erkennen, hat nur noch wenig oder nichts mehr mit dem zu tun, was Delphine eigentlich ausdrücken wollte – man denke in dem Zusammenhang an Roland Barthes Diktum vom „Tod des Autors“, demzufolge der Sinn eines Textes einzig durch den Rezipienten behauptet wird. Doch von Delphine wird erwartet, die unterschiedlichen Auslegungen der Leser zu verstehen und zu sanktionieren – sie versucht dabei, allen gerecht zu werden. Das führt schließlich dazu, dass der Erfolg des Buches ihr regelrecht über den Kopf wächst: Eines Abends scheint sie auf einer Messeveranstaltung nicht einmal mehr dazu in der Lage, der letzten Besucherin ein Exemplar ihres Romans zu signieren, und verlässt trotz großer Gewissensbisse die Veranstaltung.

In dieser schwierigen Lebensphase, die gleichzeitig immer mehr zur Schaffenskrise wird, trifft sie während eines Abends bei einer Freundin auf die Ghostwriterin L., die vorgibt, sie zu verstehen und die zu ihrer engsten Verbündeten wird, mit der sie nahezu alles teilt. L. ist die einzige Freundin, die Delphine beisteht, als Letztere immer weiter in eine Schreibblockade abrutscht. Bald jedoch häufen sich die Anzeichen dafür, dass mit L. etwas nicht stimmt, dass die enge Beziehung inszeniert und unecht sein könnte. Immer mehr wird Delphine von L. eingenommen, sodass sie sich bald selbst wie eine leere Hülle fühlt. Bald erhält sie außerdem anonyme Briefe – Anschuldigungen, die sich direkt auf ihr zuletzt veröffentlichtes Buch beziehen.

In diesem Psychothriller präsentiert Vigan eine komplexe Reflexion über die Autor-Leser-Beziehung. Welche Dinge, die wir über uns selbst erzählen oder die wir von anderen über ihr Leben hören, entsprechen der Realität und welche sind schlichtweg erfunden? Wem gehört überhaupt ein Text: dem Schriftsteller oder dem Leser? Der Roman präsentiert die produktiven und destruktiven Gedankengänge einer schriftstellerischen Persönlichkeit in Bezug darauf, was diese bereit ist, von sich preiszugeben. Die bedrückende Stimmung, die sich durch den gesamten Roman zieht, wird schon durch ein erstes Zitat von Stephen King eingeläutet. Weitere dieser Zitate begleiten den Leser durch den ganzen Roman.

De Vigan bleibt nach dem 2013 in Deutschland erschienenen Das Lächeln meiner Mutter dem autobiographischen Weg treu und liefert weitere Erzählungen aus der Realität einer Schriftstellerin – wie viel Wahrheitsgehalt ihre neue Erzählung vorweist, lässt sie allerdings selbst offen und hinterfragt das Konzept von objektiver Wahrheit mithin in ihrem Roman selbst.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Delphine De Vigan: Nach einer wahren Geschichte. Roman.
Übersetzt von Doris Heinemann.
DuMont Buchverlag, Köln 2016.
350 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783832198305

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