Soziale Marktwirtschaft am Ende

Marcel Fratzschers Streitschrift zur sozialen Ungleichheit in Deutschland

Von Wulf HopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Hopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren verbreitet sich in der deutschen Öffentlichkeit die Einsicht, dass die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen hierzulande außerordentlich hoch ist und sogar in den letzten 20 Jahren zugenommen hat. Die „Polarisierung“ der Einkommen und Vermögen, das „Schwinden der Mittelschicht“ gehören mittlerweile zu den Dauerthemen der Berichterstattung. Wer sich jenseits der journalistischen Aufarbeitung vertieft damit beschäftigen möchte, ohne sich zu sehr in fachwissenschaftlichen Erörterungen zu verheddern, ist mit diesem relativ schmalen, informativen und engagiert geschriebenen Band sehr gut bedient. Verfasst hat ihn Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das in der Ungleichheitsforschung eine führende Stellung einnimmt. Fratzscher will nicht nur einem breiten Publikum Ergebnisse der ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zugänglich machen. Vielmehr strebt er eine Wende in der Gesellschaftspolitik an. Die „soziale Marktwirtschaft“ Ludwig Erhards „existiert nicht mehr“, so Fratzscher. Sie ist angesichts der außerordentlich hohen Ungleichheit nur noch Fassade. Soll sie wirklich sozial werden, sind große Anstrengungen in zahlreichen Politikfeldern nötig.

Das Buch gliedert sich in fünf Teile mit zahlreichen, meist kurzen Einzelkapiteln. Im ersten Teil führt Fratzscher aus, warum die soziale Ungleichheit speziell ein Problem Deutschlands ist. Im zweiten Teil geht er auf die verschiedensten ökonomischen, sozialen und politischen Folgen der Ungleichheit von Vermögen, Einkommen und Chancen ein. Der dritte Teil ist den Ursachen gewidmet, die in allen Industrieländern die soziale und ökonomische Ungleichheit verstärken. Der vierte Teil geht auf spezifisch deutsche Ursachen der Ungleichheit ein, und der fünfte Teil arbeitet heraus, wieso eine bestimmte Umverteilungspolitik in Deutschland die Probleme der Ungleichheit noch verstärkt.

Für Fratzscher stellt die Ungleichheit der Vermögen und Einkommen gerade in Deutschland ein Rätsel dar. Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt und weist international ausgesprochen hohe Sparquoten der Bevölkerung auf. Zugleich sind der Vermögensbesitz, die Verteilung der Markteinkommen und die Chancenverhältnisse in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich ungleicher. Diese Ungleichheit nahm in den letzten zwanzig Jahren sogar noch zu.

Fratzscher hält ein bestimmtes Maß an Ungleichheit der Einkommen und Vermögen als Anreiz für Initiative und Kompensation für Risiken für vertretbar, aber diese Grenze sei in Deutschland überschritten. Dies belegt er überzeugend in vielen Einzelkapiteln des zweiten Teils, in dem es um die Folgen von Ungleichheit für ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum, für die Verschärfung des gesellschaftlichen Verteilungskampfes, für die unzureichende Entwicklung von Humankapital, für die Auslösung globaler Wirtschafts- und Finanzkrisen, für die Gesundheit und für die Beeinträchtigung sozialer und politischer Teilhabe geht.

Als Ursachen für die Entwicklung der Ungleichheit erörtert Fratzscher zunächst die Globalisierung und die Digitalisierung der Arbeitswelt. Beide setzen alle Industrieländer als „Macht des Marktes“ unter Druck, können demnach nicht die besonders hohe Ungleichheit in Deutschland erklären. Das ist bei der „Chancenungleichheit“ als eines speziell deutschen Problems (Teil IV) und bei der Politik des Staates (Teil V) jedoch anders. Fratzscher betont, dass die besondere deutsche Wirtschaftsstruktur – das starke Gewicht „mittelständischer“, auf Familienbesitz beruhender Unternehmen – mit der hohen Vermögensungleichheit zusammenhängt. Familienbesitz bedeutet nicht nur Weitergabe der Vermögensungleichheit in der Generationenfolge, sondern auch Verschleiern des realen Vermögens. Auch dadurch wird die international unterdurchschnittliche Vermögensausstattung in Deutschland plausibel.

Diese „mittelständische“ Unternehmensstruktur verschafft Deutschland Konkurrenzvorteile (die „hidden champions“ der Weltwirtschaft), weshalb niemand, auch nicht Fratzscher, daran denkt, diese Wirtschaftsstruktur „grundlegend ändern zu wollen“. Eine Kapitalsteuer, wie sie vor einigen Jahren Thomas Piketty in die Diskussion gebracht hatte, zieht er nicht in Betracht, hält allerdings die Einwände der Gegner der aktuellen Erbschaftssteuerreform für widerlegt.

Ungleiche Chancen werden in Deutschland darüber hinaus durch ein Mobilität beschränkendes Bildungssystem, durch eine Bildung konterkarierende Familienpolitik (Betreuungsgeld) und durch ein Frauen benachteiligendes Rollen- und Familienbild verstärkt. Die Chancenungleichheit gilt für Fratzscher als der „größte Treiber destruktiver Ungleichheit“.

Er entwirft ein ungemein vielfältiges, anregendes Bild der Erscheinungsformen, Folgen und Ursachen gesellschaftlicher/ökonomischer Ungleichheit sowie der steuer- und allgemeinpolitischen Antworten. Wie kann er diese Vielfalt in einem schlüssigen eigenen Konzept zur Bekämpfung der sozialen Ungleichheit zusammenhalten? Im Schlusskapitel („Fazit“) zeigt sich, dass er zu einseitig eine bestimmte Lesart der Probleme favorisiert. Der Schlüssel für die Ungleichheit ist für ihn die fehlende gesellschaftliche Mobilität in Deutschland. Mobilität von was? Vor allem: von Bildung, Arbeit, Kapital. Aber an der Kapital-Immobilität, die sich im Privateigentum und in der Vererbung desselben zeigt, rührt er nicht.

So bleibt als maßgebliche Strategie übrig, die „Aufstiegsmobilität“ der Bevölkerung durch weniger Bildungs- und Berufsbarrieren zu steigern und die individuellen Bedingungen für soziale Teilhabe und Partizipation zu fördern. Das ist sicherlich notwendig, ersetzt aber nicht die politische Veränderung der Barrieren selbst. Aber selbst innerhalb dieser auf die Nicht-Kapitalbesitzer bezogenen Mobilisierungsstrategie ist Fratzscher vorsichtig. Gestützt auf die ökonomischen Analysen der langfristig positiven Folgen von Investitionen in frühkindliche Bildung fordert er sehr klar den Ausbau der Vorschul- und Grundschulbildung, auch auf Kosten der Ausgaben für höhere Bildung und Hochschulen. Aber darüber hinaus sind seine Empfehlungen zum „Strukturwandel“ des Bildungssystems sehr vorsichtig und unbestimmt. Er möchte die „Durchlässigkeit“ des typisierten deutschen Schulsystems erhöhen, traut sich aber nicht an eine Überwindung des Typenschulsystems als zentralem Mobilitätshindernis heran. Seine uneingeschränkt positive Erwartung an „Bildung“ als Schlüssel zur Egalisierung von Einkommen und Vermögen unterschätzt die herrschaftliche Verfasstheit auch dieses gesellschaftlichen Teilbereichs, die er anderswo als Schranke der Teilhabe benennt.

Wer soll die Wende zu stärkerer Mobilisierung der brachliegenden Fähigkeiten und Kräfte bewirken und damit eine Egalisierung von Einkommen und Vermögen einleiten? Es ist der Staat, der nach Fratzschers Analyse selbst zu den Mitverursachern der großen Ungleichheit in Deutschland gehört. Im internationalen Vergleich ist die Ungleichheit der Markteinkommen in Deutschland (vor Steuern und vor sozialstaatlichen Umverteilungen) außerordentlich hoch. Erst bei Berücksichtigung von Steuern, Abgaben und Sozialleistungen nähert sich die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen den durchschnittlichen Verteilungen anderer Industrieländer an. Fratzscher hält dies für einen kostspieligen Umweg. Er möchte eine „smartere Umverteilung“ durch einen Staat, der „kleiner, effizienter und fokussierter“ werden muss und auf Chancenegalisierung zielt, statt nachträglich umzuverteilen.

Diese auf den ersten Blick plausible Strategie hat zwei Haken. In seiner Betonung der chancenfördernden Mobilisierungsstrategie vernachlässigt Fratzscher die Risiken, die der Arbeitsprozess für Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Alter stellt. Sie – der zentrale Gegenstand der staatlichen Sozialpolitik – sind durch Bildung der Individuen vielleicht besser zu bewältigen, aber doch nicht zu beheben.

Der zweite Haken des „smarten Staates“ – billiger und zugleich sozial ausgleichender zu sein – liegt im Steuerungsproblem, das Fratzschers grundlegende Orientierung berührt. Sein Begriff der Gerechtigkeit speist sich vor allem aus Freiheitsvorstellungen (unter anderem von Isiah Berlin). Die bestehende Einkommens- und Vermögensungleichheit erlaube es den Menschen nicht, ihren eigenen Fähigkeiten und Zielen nachzugehen. „Chancengleichheit“ wird geradezu – fast in der liberalen Tradition Dahrendorfs – synonym zur Freiheit der Wahl des eigenen Lebens definiert. Eine solche Auffassung muss sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass zur Erreichung einer gleicheren Gesellschaft mit Hilfe des Staates Einschränkungen der individuellen Freiheit verbunden sein werden. Fratzscher gibt selbst Beispiele, in denen die freie Wahl Ungleichheit verstärkt und Privilegien reproduziert. Er sagt mehrfach und ausweichend, wie „schwierig“ es sei, hier die richtige Balance zwischen Staat und Privaten zu finden. Man wünscht sich von ihm aber eine entschiedenere Position dazu, wie die Gesellschaft die freie Wahl der Einzelnen stimuliert und zugleich einhegt, um mehr Gleichheit der Chancen und der sozialen Beteiligung zu erreichen.

Noch ein Wort zum Titel des Buches: „Verteilungskampf“: Fratzscher meint damit alles zwischen Lobbyarbeit im Verborgenen und offenen sozialen Kämpfen von Interessengruppen. Er hält sie für ein notwendiges Element der demokratischen Gesellschaft, beklagt aber häufig, dass Verteilungskämpfe Kräfte binden und unproduktiv sind. Einen eigenen Gegenstand der Analyse bilden sie – trotz des Titels des Buches – nicht. Das ist bedauerlich, weil man sich fragen kann, ob der Autor die Untersuchung der gesellschaftlichen Ursachen von Einkommens-, Vermögens- und Chancenungleichheit weit genug vorangetrieben hat. Dass diese Ursachen in Herrschaftsverhältnissen von Gruppen übereinander liegen, machen Fratzschers Ausführungen zur „Wirtschaftsstruktur“ der Bundesrepublik als Eigentumsstruktur deutlich. Dass hierin ein endemisches, dauerhaftes Konfliktpotential kapitalistischer Gesellschaften liegt, wird jedoch nur selten von ihm angesprochen. Die entsprechenden „Verteilungskämpfe“ beziehen sich nicht auf die Ergebnisse gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Herrschaft – die erscheinende empirische Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen – sondern auf die herrschaftliche Arbeitsteilung selbst: auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, auf die „Zuschneidung“ von Jobs und auf die Organisation von Macht und Verantwortung als Bedingungen ihrer unterschiedlichen Entlohnung. Fratzscher fordert zu Recht eine Angleichung der steuerlichen Behandlung der „Produktionsfaktoren“ Kapital und Arbeit. Aber diese sind nicht einfach gleichberechtigte Produktionsfaktoren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Marcel Fratzscher: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
264 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446444652

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