Die Grenzen des Indeterminismus

Jürgen Neff: „Freier Wille?“

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

„Wer lenkt Sie eigentlich?“, fragt der Autor auf der Titelseite seines Bühnenstücks und stellt somit bereits zu Beginn seines Dramas die Existenz des freien Willens in Frage. Auch im Drama selbst geht es weniger darum, was der freie Wille per se sei, als vielmehr darum, was ihn einschränkt. Jürgen Neff präsentiert dabei ein Ensemble von dreizehn überwiegend namenlosen Figuren-Typen, wie z. B. eine Tourette-Patientin, eine Ärztin, einen Mentaltrainer oder schlichtweg Menschen, deren Gemeinsamkeit in der Fremdbestimmtheit zu liegen scheint – sei es durch Sucht, psychische Störung oder auch durch Manipulation.

Die hohe Komplexität des Themas spiegelt sich nicht nur in der Zahl der dramatis personae (insgesamt dreizehn Figuren) oder der Szenen (32 Auftritte) wider, sondern vor allem in den exponentiellen Relationen zu anderen Phänomenen, wie z.B. zu Tod oder Glück. Das Stück dekonstruiert dabei den Glauben an die individuelle Autonomie, die in der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft oft als Garant für den Erfolg und das Glück des Einzelnen gilt. Dies vermittelt in Freier Wille beispielsweise der Mentaltrainer: „Jeder einzelne von euch muss aufstehen, muss sich aus seiner persönlichen Komfortzone heraus bewegen, seine Bequemlichkeit ablegen […]. Du musst es nur wollen, steh auf und sag es laut: Ich will!!! […] Denn nur so kannst du es schaffen.“ Doch diese Worte verwandeln sich rasant in sinnentleerte Floskeln, worin sich zugleich die ‚Machart‘ des Stückes manifestiert, sobald Bea, seine Partnerin und zugleich die einzige Figur mit Eigennamen, ihren – für den Mentaltrainer beängstigenden – Wunsch äußert, Mutter zu werden.

Während die meisten Figuren und Szenen gut nachvollziehbar erscheinen, gibt es doch etwas, was nach der Vorstellung noch lange Zeit zu beschäftigen weiß. Gemeint ist der wiederkehrende Philosoph, der Menschen umbringt. Seine Opfer haben eine Chance sich selbst vor dem Tod zu retten, sobald sie die ‚richtige‘ Frage erraten. Gelingt es ihnen nicht, werden sie ermordet. Letztlich flehen sie, durch das intensive Nachdenken und Reflektieren gequält, freiwillig um den Tod. An diesen Stellen fühlt man sich durchaus an Albert Camus erinnert, dessen Worte in dem Stück nachzuklingen scheinen: „Aus vielerlei Gründen, vor allem aus Gewohnheit, tut man fortgesetzt Dinge, die das Dasein verlangt. Freiwilliges Sterben hat zur Voraussetzung, dass man wenigstens instinktiv das Lächerliche dieser Gewohnheit erkannt hat, das Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben, die Sinnlosigkeit dieser täglichen Betätigung, die Nutzlosigkeit des Lebens“. Doch die Opfer des Philosophen stellen zu seinem Verdruss stets die falsche Frage: „Warum tun Sie das?“ – wollen sie wissen, um seine Motive zu ergründen. So wird mit dieser Figur nicht wie bei den meisten dieses Bühnenstücks die Existenz des freien Willens angezweifelt, sondern der freie Wille wird vielmehr mit der Macht konnotiert und so auf seine Kehrseite hingewiesen:

„Immer, wenn wir von unserer lieben Selbstbestimmung reden, von unserem freien Willen, dann schwingt da etwas Glamouröses mit, etwas Fantastisches, von dem wir glauben, es sei ganz grundsätzlich etwas Gutes. Aber keiner denkt darüber nach, dass dieses Geschenk der Freiheit auch eine Bürde ist. Und dass unsere Freiheit auch genauso die Tür ins Reich des Bösen, des abgrundtief Hässlichen aufstößt. Die Freiheit ist nichts Gutes, sie ist neutral! Nur deshalb macht sie uns ja frei. Die Freiheit ist die Atomenergie und was wir daraus machen, eine Stromquelle oder eine Bombe, ist ganz unsere Entscheidung.“

Das Stück ist gekennzeichnet von anspruchsvollen Dialogen und Handlungen, die von den Leser/innen wie den Zuschauer/innen eine intellektuelle Anstrengung erfordern. Denn – und dies scheint die Gegenwartsliteratur gelegentlich zu vernachlässigen – den Leser/innen muss eigentlich nicht immer alles erklärt werden. Sie brauchen vielmehr Freiräume, um ihre Gedanken entfalten zu können. Jürgen Neff tut genau das, indem er ihnen diese Freiheiten einräumt. Negativ anzumerken ist allerdings die Verwandtschaft einiger Figuren untereinander, deren Zweckmäßigkeit nicht immer ersichtlich wird und an einen Versuch erinnert, nachträglich und überaus künstlich eine Kohärenz herzustellen.

„Einer muss dran glauben!“, so lautete das Motto der vierten Autorentage „Stück auf!“, in dessen Rahmen Jürgen Neffs Stück als eines von insgesamt 128 Einsendungen und neben weiteren sieben Werken in einer szenischen Lesung auf die Bühne gebracht wurde. Die Herausforderung für die dramaturgische Leitung (Carola Hannusch) bestand hauptsächlich in einem ständigen und schnellen Wechsel sowohl der Szenen – von den 32 Szenen wurden 15 realisiert – als auch der Figuren. Das schlichte Bühnenbild, die mit Mehrfachrollen besetzten, schwarz gekleideten Schauspieler, hauptsächlich Mitglieder des Essener Ensembles, die ihren aktuellen Auftritt mit einem an die Brust geklebten Namen der Figur ankündigten, die auf fünf weiße Stühle begrenzten Requisiten, die nach Bedarf hin- und hergeschoben wurden: Diese Reduktion des Bühnenbildes auf ein Minimum brachte den Vorteil mit sich, dass sich die Zuschauer/innen trotz der hohen Dynamik des Stücks gut auf die Handlung und die Dialoge konzentrieren konnten. Zwar verloren einige Szenen durch die nötige Kürzung ihre Pointe, doch die Wirkung des Stückes beeinträchtigte es offenbar keinesfalls. Am Ende des langen Tages wurde dieses Stück mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen