Ein Wahnsinniger kommt selten allein

Rinus Silzle: „Totschlagen“

Von Yvette RodeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvette Rode

Rinus Silzle hat mit seinem Stück Totschlagen, das von Vera Ring inszeniert wurde, das „Stück auf!“-Festival eröffnet. In Totschlagen geht es um Menschen, die sich im Wartezimmer eines Psychiaters kennenlernen und auf den ersten Blick nicht wie psychisch labile Personen wirken. Da ist zum einen die penetrante Lasia Spinosa, die den anderen Patienten Thomas und Richard nicht nur von ihrem Faible für „Klatsch- und Tratschbl[ä]tt[er]“ erzählt, sondern auch versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Außerdem will sie sie dazu zwingen, Erfrischungsdrops und Schokolade zu essen. Mit ihrem Bloggerdutt, dem grauen Cardigan und dem bunten Rock wird Lasia wie der Prototyp eines Hipsters aus Berlin-Mitte inszeniert. Thomas verkörpert mit seiner Lederjacke, der löchrigen Jeanshose und dem Motorradhelm einen Biker, während Richard mit seiner Hornbrille, der Cordhose und der Thermoskanne wie ein biederer Spießer inszeniert wird.

Sowohl Thomas als auch Richard werden im Stück als distanzierte Persönlichkeiten, die den Fragen von Lasia ausweichen wollen, dargestellt. So dreht Thomas ihr den Rücken zu oder steht auf, wenn sie sich ihm nähert und Richard liest in einer Zeitung oder trinkt Kaffee. Dennoch versucht Lasia ein Verhältnis zu den beiden Männern aufzubauen und erinnert dabei selbst an eine Psychiaterin, die während des Anamnesegesprächs alles von ihren Patienten erfahren möchte. Auf die Frage von Richard, „[w]em […] man schon trauen“ könne, antwortet Lasia, dass er ihr „alles anvertrauen“ könne, worauf Richard erwidert, dass er nur deshalb einen Psychiater aufsuche, „um sicher zu gehen, nicht wahnsinnig zu sein“. Lasia erklärt indes Richard und Thomas, dass die meisten Krankheiten nur dadurch entstünden, dass sich die Patienten zu viele Gedanken machten: „Man sollte eine Entscheidung innerhalb von 30 Sekunden gefällt haben, andererseits macht man sich verrückt. Gedanken nutzen nämlich ihre Freiheit und dann erschlagen sie dich. Das, meine Herren, ist der Ursprung jeder Krankheit. Heilung ist Kopfsache, krank sein aber auch“. Zudem versucht sie Richard und Thomas zu manipulieren, indem sie an sie appelliert, dass sie sich von ihrem Psychiater nichts einreden lassen sollen.

Bereits zu Beginn des Stücks wird angedeutet, dass Lasia eine gespaltene Persönlichkeit besitzt und sich nicht ohne Grund in psychiatrische Behandlung begibt. Dies wird besonders deutlich, als sie eine Tafel Schokolade auf den Tisch legt und diese mit einem einer Mordwaffe würdigen Messer in Stücke schneidet, welche sie Richard aufdringlich anbietet. Zudem erweckt sie den Eindruck, als habe sie Thomas mit den Erfrischungsdrops und Richard mit der Schokolade vergiftet. So erklärt sie Thomas „Sie glauben immer noch, sie hätten vorhin nur ein Pfefferminz geschluckt“.

Im Gegensatz zu Lasia, Thomas und Richard ist die vierte Patientin, Frau Spiegel, lediglich ein Nebencharakter, von dem die Zuschauer*innen nur ihren Nachnamen erfahren. Sie treibt die Handlung nicht voran. Stattdessen wird sie als klischeehafte wahnsinnige Patientin gezeichnet, die während des Stücks mehrmals aus dem Behandlungs- ins Wartezimmer flieht und mit weit aufgerissenen Augen im Kreis läuft. Aussagen wie „Mein Name ist konstruiert. Er ist unwichtig, genau wie der Name meiner Krankheit. Wir sind ein Team“ unterstreichen ihre psychische Instabilität.

Den dramaturgischen Höhepunkt von Totschlagen bildet das letzte Drittel des Stücks, in dem Lasia, Richard und Thomas gestehen, dass sie schon einmal einen Mord begangen haben. Richard erzählt, dass er einen Igel umgebracht hat und Thomas, dass er als Sechsjähriger seiner schwangeren Mutter mit der Faust in den Bauch geschlagen hat, woraufhin sie eine Fehlgeburt erlitt. Während die zwei in Tränen ausbrechen, bezeichnet Lasia sie als „jämmerliche Jammerlappen“ und verharmlost die Gewalttaten: „Das einzig Wahre, Große, das einzige, was über allen Dingen auf der Welt steht, ist der Mord. Gezielt das Leben eines anderen beenden, bedeutet über seine Ziele zu herrschen. […] Mit einem Mord wirst du zum Richter, du hast die Kontrolle über das Leben und somit über die Zeit. Es ist die einzige Möglichkeit, über der Zeit zu stehen. Mit einem Mord an einem Menschen schlägst du der Zeit direkt eins in die Fresse“. Am Ende des Stücks bangen dann Richard und Thomas um ihr Leben.

Totschlagen überzeugt insbesondere durch seine vielschichtigen Figuren, die im Verlauf des Stücks ihre Fassade nicht mehr aufrechterhalten können. Alleine wegen der präzisen Psychologisierung der Figuren hätte Totschlagen einen der begehrten Preise des Festivals verdient gehabt. Die Figuren sind es auch, die über kleine Schwachstellen der Inszenierung hinwegsehen lassen. Als Richard vom getöten Igel berichtet, wird auf einer Leinwand das Bild eines Igels eingeblendet, und als Thomas vom Angriff auf seine Mutter erzählt, werden Bäume gezeigt. Untermalt werden diese Szenen mit trauriger Musik. Hierauf hätte Ring verzichten können, weil die Szene durch die Bilder und die Musik allzu kitschig gerät. Einige Zuschauer*innen mögen an dieser Stelle des Stücks nicht mehr darauf geachtet haben, mit welch einer emotionalen Hingabe Richard und Thomas von den Morden erzählen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen