Heimat

Eberhard Rathgeb „auf den Spuren eines deutschen Gefühls“ – für wen?

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum „Tag der deutschen Einheit“ werden seit einigen Jahren in den Medien gerne Themen zur deutschen Heimat aufgegriffen (vgl. literaturkritk.de 10/2015). Anfang Oktober 2015 präsentierte das Erste Deutsche Fernsehen eine „ARD Themenwoche Heimat“. Zwei Jahre vorher hatte die Fortführung der Heimat-Trilogie von Edgar Reitz, der Film Die andere Heimat, ihren Kinostart in symbolträchtiger Aufdringlichkeit am 3. Oktober. In diesem Jahr 2016 wiederum erschien Ende September Die Zeit mit der groß aufgemachten Überschrift auf der ersten Seite: „Wozu ist Heimat gut? Auf der Suche nach einem strapazierten Gefühl“.

Der Untertitel las sich wie eine kritische Abwandlung eines Buchtitels des ehemaligen Redakteurs der Frankfurter Allgemeinen Eberhard Rathgeb. Das Buch dieses Journalisten und Schriftstellers, dessen Roman Kein Paar 2013 mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, war allerdings bereits im März erschienen. Und obwohl der Titel des Buches, Am Anfang war Heimat mit dem Untertitel Auf den Spuren eines deutschen Gefühls, und zunächst manches Andere in dem Buch vermuten lassen könnten, dass hier ein altes deutsches National- und Heimatgefühl wiederbelebt werden könnte, ist es davon weit entfernt. Auf die Teilung Deutschlands, auf den Mauerfall und darauf, dass „die beiden Teile Deutschlands wieder vereint wurden“, geht Rathgeb nur ganz beiläufig ein und bescheinigt der Öffnung der Grenzen damals den Effekt „eines globalen Lebensstils“, bei dem „Heimat“ keine substantielle Bedeutung mehr hat. Das hatte sie auch für Rathgeb nicht – bis zum Tod seines Vaters.

„Am Anfang war Abschied“, so ließe sich der Titel von Eberhard Rathgebs essayistisch-erzählerischen Erkundungen über vergangene Heimatgefühle abwandeln. In der Geschichte jedenfalls, die er von seinem Vater erzählt und die im Zentrum seiner Spurensuche steht, wird diesem das Gefühl erst bewusst, als er die Heimat verlassen muss:

Dass er eine Heimat hatte und sie ihm viel bedeutete, spürte mein Vater das erste Mal, als er sie 1929, er war ein kleiner Junge, verlassen musste. Weder mit den Eltern noch mit den Geschwistern hat er über dieses Gefühl gesprochen, er hätte es nicht erklären und nicht beschreiben können, und deshalb schwieg er und kapselte das Gefühl vor allen anderen ab. Es war nur für ihn da. Er war traurig, dass sie weggehen mussten, und versuchte nicht zu weinen, als er ein letztes Mal in die Zimmer sah, in denen er und sie glücklich gewesen waren, und als er sich noch einmal nach dem Haus umdrehte, in dem er und sie gelebt hatten.

Der Vater des kleinen Jungen, also Rathgebs Großvater, verließ mit seiner Familie die Heimat anders gestimmt. Der Ingenieur folgte dem Arbeitsangebot einer deutschen Firma nach Buenos Aires, erhoffte sich in Argentinien berufliche und wirtschaftliche Vorteile, hielt zudem „Hitler und die Nationalsozialisten für eine Bedrohung eines anständigen Lebens“ und sah sich seit 1933 darin bestätigt. In Buenos Aires, wo Rathgeb selbst geboren wurde und seine ersten Kindheitsjahre verbrachte, lebten damals etwa zwanzigtausend Deutsche. Der „Verein für das Deutschtum im Ausland“ und andere dubiose Institutionen bemühten sich darum, den ausgewanderten (nicht den geflohenen) „Auslandsdeutschen“ eine „neue Heimat“ zu verschaffen, die der alten verbunden blieb. Rathgeb zitiert aus ihren Schriften und imaginiert, wie sein Großvater sie gelesen haben könnte – mit gemischten Gefühlen. Auch nach 1945 wollte dieser nicht nach Deutschland zurückkehren. „Heimweh“ hatte er durchaus, aber er kämpfte dagegen an:

Die Vorstellung, nach Deutschland zurückzukehren, in ein Land, in dem noch Nazis lebten, auch wenn das Dritte Reich kapituliert hatte, war meinem Großvater ein Graus. Wenn das Heimweh sich in der Brust regte und darum kämpfte, dass er Schiffsfahrten kaufen und über den Atlantik nach Hause fahren möge, in die Heimat, schimpfte er mit dem Heimweh wie mit einem Kind, das sich nicht mit der Realität abfinden mochte und auf seinen Wünschen beharrte. Hör auf, mir etwas vorzumachen, sagte er, es gibt kein Zurück mehr, die Nazis haben Deutschland zerstört. Das Heimweh ließ sich nicht gerne über den Mund fahren und zum Schweigen verurteilen und brach in ein hysterisches Geheul aus, das in ein verzweifeltes Gelächter umschlug […].

Großvater und Vater gehören zu den Kontrastfiguren, von denen es in den von Rathgeb erzählten Geschichten etliche gibt. Beide stehen zwar im Mittelpunkt der von ihm betriebenen „Heimatforschung“, als die er sein Buch im Vorwort bezeichnet und die er als Gefühlsforschung mit den Mitteln des Erzählens betreibt, sind aber nur zwei von zahlreichen anderen, die der Autor in einer Mischung von (auto)biographischen Fakten und romanhaften Fiktionen präsentiert. Die Suche nach „Spuren eines deutschen Gefühls“ ist die Suche nach zum Teil ähnlichen, zum Teil ganz unterschiedlichen emotionalen Erfahrungen, die deutsche (oder genauer: mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsene) Personen im Umgang mit ihrem Herkunftsland gemacht haben.

Ein Kapitel stellt die Österreicher Adolf Hitler und Stefan Zweig gegenüber. An anderer Stelle wird Martin Heideggers Hütte im Schwarzwald mit der Hütte Ludwig Wittgensteins in Norwegen verglichen, in der er an seinen Werken schrieb. Und bevor Rathgeb diese Gelegenheit nutzt, um eine Seite lang eine kleine Einführung in Wittgensteins Sprachphilosophie zu geben, war schon das erste Kapitel seiner Spurensuche einer Wanderung Heideggers durch die Berge und einem Vortrag über Heimat gefolgt, den dieser 1961 am „Heimatabend“ zur 700-Jahres-Feier der Stadt Meßkirch hielt. Der Philosoph erklärte dabei seinen Zuhörern, wie sie mit ihren Fernseh- und Rundfunkempfängern und anderen technischen Geräten „nicht mehr dort zu Hause seien, wo sie wohnten“, und „dass die Heimat, das heißt alles, was einmal so genannt wurde, sich auflösen und verfallen werde.“ Mit solchen Sätzen zitiert Rathgeb Heidegger zwar nicht wörtlich, aber versucht, sich seinem Vokabular, seinem Denken und Empfinden anzunähern. Und er geht dabei, wie später im Umgang mit den anderen Figuren seiner Erzählungen, noch weiter: Heidegger „schaute zur Rückwand des Saales, dachte an die alten Gebäude der Stadt, an die Gaststube, in der sie nachher beim Wein zusammensitzen würden, und trotzte der Gefahr“ – der Gefahr, durch den zivilisatorischen „Fortschritt“ das „Eigene“ und „Heimische“ zu verlieren.

Den Personen, über die Rathgeb erzählt, bringt er immer wieder ein Maß an Empathie entgegen, das aus mehreren Gründen oft irritierend wirkt. Nicht nur reale Personen, die er persönlich nicht kannte und die längst tot sind, sondern auch Figuren aus tradierten literarischen Texten oder Gemälden werden bei ihm auf eine Weise lebendig, mit der sich das Erzählte als poetische Phantasie zu erkennen gibt. Das lässt daran zweifeln, ob hier überhaupt noch mit irgendeinem Anspruch auf Realitätsnähe erzählt wird. Den Mönch am Meer in Caspar David Friedrichs berühmtem Gemälde schildert er ähnlich einfühlsam wie den Siegfried, die Brunhilde oder die Krimhilde des Nibelungenlieds. Sogar Bäume oder Burgen werden lebendig: „Burgen grüßten sich von Berg zu Berg“ oder „Linden sagten sich vergessene Gedichte auf, in denen sie vorkamen“. Und nicht zuletzt die Gefühle selbst agieren wie menschliche Subjekte.

Wenn Rathgeb an einer Stelle Stefan Zweig als „Liebhaber der Verschmelzung durch Empathie, durch einfühlendes Verstehen“ bezeichnet, erscheint das wie eine Selbstcharakterisierung. Die Einfühlsamkeit, die Rathgeb an Zweig oder auch an dem ebenfalls emigrierten Kunsthistoriker Erwin Panosky besonders hervorhebt, kennt bei ihm selbst kaum Grenzen. So scheint es zumindest auf vielen Seiten seiner Spurensuche. Als Ich-Erzähler wirkt er insofern unglaubwürdig, als er Fakten und Fiktionen beliebig vermischt und so auch über Heimatgefühle seines Vaters oder Großvaters erzählt, über die er gar nichts wissen kann – sogar von solchen Gefühlen, die sein Vater in seinen ersten Lebensjahren hatte, die diesem selbst nicht bewusst waren und über die er dem Sohn später auch nichts erzählen konnte, von Gefühlen der „Geborgenheit und Zugehörigkeit“, die „er später Heimat nannte“. Rathgeb, der Sohn, erzählt jedoch über die Kindheit des Vaters:

Der erste Ort der Heimat, der innerste Kreis, um den sich andere bildeten, war das Elternhaus, wo einer sich heimisch fühlte, sobald er die Nähe der Eltern und der Geschwister suchte, solange er sich ihnen verbunden fühlte wie keinen anderen Menschen sonst. Bevor er wusste, was Eltern waren, hatte er es erfahren, gespürt.

Im Vorwort entschuldigt sich Rathgeb denn auch gleichsam für seine Anmaßung „übermäßiger Vertrautheit“ mit dem Seelenleben seines Vaters, unterscheidet zwischen dem „echten“ und dem in seiner Spurensuche fingierten Vater und rechnet nachträglich mit dem Verständnis des echten: „Mein Vater, der echte, hätte sich zu Recht über die Nähe, die ich mir hier anmaße, gewundert, aber die meiner Heimatforschung zugrunde liegende Bemühung gutgeheißen und deshalb ein Auge zugedrückt.“ Aber auch der echte Vater ist hier ein fingierter, ein toter Vater, der die Spekulationen seines Sohnes entschuldigt „hätte“. Mit ähnlich paradoxen Sätzen schreibt Rathgeb im Vorwort über seine Annäherungen an „bekannte Fremde wie Heidegger, Adorno, Rahel Varnhagen, Hannah Arendt und andere“, an denen er seine „Vermutungen zur Ethnographie des Heimatgefühls“ herausbildet und exemplifiziert: „Bei ihnen konnte ich mir keine einfühlsamen Zudringlichkeiten erlauben“, sie hätten die „Differenzen“ zwischen Dichtung und Wahrheit, anders als sein Vater, nicht akzeptiert. In dem, was dann in dem Buch folgt, erlaubt sich Rathgeb solche Einfühlsamkeit aber sehr wohl.

Klare Unterscheidungen, stringente Argumentationen oder prägnante theoretische Abstraktionen vermeidet dieses Buch auf eine Weise, die beim Lesen oft befremden oder sogar verärgern, aber auch produktiv verwirren kann. Es ist jedenfalls lohnend, sich ausführlicher darauf einzulassen.

Der Anfang dieser Suche nach den Spuren eines deutschen Gefühls stimmt zunächst skeptisch. „Heimat ist ein Gefühl wie Liebe und Hass“, heißt es da – was ziemlich unsinnig ist: Heimat kann man lieben oder auch hassen oder sie kann mit anderen Gefühlen eng assoziiert sein, aber sie selbst ist kein Gefühl. In einer späteren Absichtserklärung heißt es denn auch angemessener, das Buch wolle dem Leser helfen, der Heimat und dem Gefühl, das sie ihn ihm wachruft, näher zu rücken. Neben solchen Ungenauigkeiten stehen ästhetisch verunglückte Bilder, etwa wenn der Autor erklärt, die Lücken in seiner Spurensuche „ließen sich so wenig vermeiden wie ein Wurm in einem Eimer voller Pflaumen“. Am Ende des Vorworts steht, dass der Untertitel des Buches behaupte, eine Art Roman zu sein. Wieso soll „auf den Spuren eines deutschen Gefühls“ eine Art Roman versprechen? Es sei zwar kein Roman geworden, erklärt der Autor, aber das Buch will vor allem erzählen. Das sei der „Einsicht geschuldet, dass sich vor allem erzählend Klarheit über Gefühle gewinnen lässt.“

Dass Rathgeb die seit einigen Jahren forciert betriebene kulturwissenschaftliche Forschung zum Heimat-Begriff und auch die Emotionsforschung gänzlich ignoriert (wie übrigens auch die gleichzeitige Renaissance der lange verpönten „Heimat“ im Film und in der Literatur), gehört also zu seinem Programm. Die „Klarheit“ des von ihm bevorzugten Erzählens hält sich allerdings sehr in Grenzen. Es ist assoziativ, erschöpft sich in vielen Wiederholungen und ist von seltsamen Widersprüchen durchsetzt.

In längeren Ausführungen zu Rudolf Steiner, dem „unermüdlich Reisenden“, und seiner Wende zur Theosophischen Gesellschaft und dann zur Anthroposophie verliert er den Zusammenhang mit dem Thema Heimat zunächst fast ganz aus den Augen. Erst nach zwanzig Seiten wird explizit deutlich, was Steiner mit dem „deutschen Gefühl“ verbindet, um das es Rathgeb geht. Im Umfang einer halben Seite zitiert er hier aus einem Vortrag, den Steiner am 14. Januar 1915 in Berlin gehalten hat, über „Die germanische Seele und den deutschen Geist“. Nach dem Ende des langen Zitats fährt Rathgeb erzählend fort: „Steiner schwieg, er sah, was er sagte, genau vor sich.“ Rathgeb malt dann aus, was Steiner vor sich sah, und kommentiert es anschließend mit den Worten: „Esoterik war eine Art Gedankendichtung, eine Form von geistiger Heimat, in die jeder aufgenommen werden konnte, der sich den Gesetzen der Gedankendichtung fügte.“

Von einer nationalen, heimatverbundenen Identifikation mit dem „deutschen Geist“ und Steiners Forderung in diesem Vortrag, dass „das deutsche Wesen in der Weltentwicklung seine Mission erfüllen muss“, ist Rathgeb, wie noch zu zeigen ist, weit entfernt. Aber eine vergleichbare Art von „Gedankendichtung“ ist auch sein Buch. Bei aller Distanz auch zu Martin Heidegger, dessen zeitweilige Nähe zu Hitler er mehrfach unumwunden anspricht, ist Rathgebs Interesse an und partielle Sympathie mit Grenzgängern zwischen Philosophie und Poesie unverkennbar. Zu ihnen gehören neben Steiner und Heidegger vor allem auch Kierkegaard und Adorno. Und offensichtlich gerne zitiert er Friedrich Schlegel mit jenem Satz, der das romantische Programm der „progressiven Universalpoesie“ auf den Punkt bringt: „Was sich tun lässt, so lange Philosophie und Poesie getrennt sind, ist getan und vollendet. Also ist die Zeit nun da, beide zu vereinen.“

Die gefühlsphilosophische und erzählende Prosa Rathgebs hat zweifellos poetische Qualitäten, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Neben dem Bilderreichtum fällt vor allem ihre Musikalität auf. Die oft langen, durchrhythmisierten Sätze haben ihre Entsprechung in der Komposition des ganzen Buches, in dem bestimmte Motive und Erzählstränge in regelmäßiger Abfolge aufgenommen, fallen gelassen und wiederholt werden. Das, was konventionell getrennt oder als gegensätzlich empfunden wird, zu vereinen, ist dabei nicht nur im Hinblick auf die Unterscheidung von Philosophie und Poesie ein Programm, dem Rathgeb mit einiger Konsequenz zu folgen versucht und das die Differenzen seines Niveaus partiell rechtfertigen kann. An der Existenzphilosophie von Kierkegaard, Heidegger, Jaspers und auch Sartre oder Camus reizt ihn die persönliche, existentielle Betroffenheit von dem, was sie schreiben oder sagen, und an der Philosophie Wilhelm Diltheys die Aufhebung des Gegensatzes von Denken und Leben. Neben den großen Namen vieler Figuren seiner Erzählungen stehen namenlose Flüchtlinge, nicht nur die der Vergangenheit, sondern auch die der Gegenwart. Und während er einerseits davon erzählt, wie das deutsche Heimatgefühl dazu beigetragen hat, Juden aus Deutschland zu vertreiben oder massenhaft zu ermorden, ist die Heimatverbundenheit deutscher Juden ein an etlichen prominenten Beispielen aufgenommenes Thema.

Auch den „postmodernen“ Versuch, die Kluft zwischen Elite- und Massenkultur zu schließen,  unternimmt Rathgeb auf eigene Art: Die elitebewussten Abstraktionen der Philosophie Hegels oder die Hermetik Heideggers popularisiert er auf eine Weise, die zuweilen befremdlich wirkt. Dass er sich auf einigen Seiten mit dem Schriftsteller und Reformpädagogen Leo Weismantel auseinandersetzt, ist dafür symptomatisch. Dessen historische Romane über Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und Albrecht Dürer hatte sein Vater gelesen. Ihnen verdankte er „eine Vorstellung vom mittelalterlichen Leben“ und damit über einen wichtigen Bereich in der Kultur seiner Heimat. In Weismantels Romanen wurde der Künstler „zu  einer Romanfigur“, gegenüber der Abhandlungen über sie von professionellen Kunsthistorikern nur „blass, dick, gelehrt“ wirkten. „Das Dürer-Buch von Heinrich Wölfflin und das große, in Amerika entstandene Dürer-Buch von Erwin Panofsky sahen neben Weismanntels Dürer aus wie zwei Bibliotheksgespenster“. Obwohl sie nicht nur für ein „geduldiges Fachpublikum geschrieben waren“, verzichteten sie eben „auf Gefühl, Gespräch und Handlung“ – anders als damals Weismantel und jetzt Eberhard Rathgeb, der, wie es scheint, seine historische Spurensuche in einem Stil schreiben wollte, der seinem Vater so gefallen hätte wie der Weismantels.

Der pädagogische Impetus des Buches wirkt dabei oft penetrant und dürfte manche Leser verärgern. „Der Philosoph Immanuel Kant hatte gesagt, dass der Mensch nicht imstande sei, das Ding an sich zu erkennen …“ Welchen Leserinnnen und Lesern, die sich für die Geschichte deutscher Literatur, Philosophie und Kunst interessieren, die für seinen Vater und auch Großvater eine Art Heimat waren, muss man, wenn von Kant die Rede ist, sagen, dass er ein „Philosoph“ ist? Wie eine literarische Heimatkunde für Anfänger nimmt sich das Buch aus, wenn Rathgeb in einem seiner letzten Kapitel die Geschichte von Siegfried erzählt und sie so einleitet „Ihn kennen nur noch die Freunde der Opern von Richard Wagner, in den Köpfen derer, die mit Richard Wagner nichts anfangen können oder nicht wissen, dass es ihn gab, leben andere Helden …“

Wie Weismantel agiert Rathgeb vielfach als eine Art Volks(hoch)schullehrer im Fach Heimatkunde. Was daran zuweilen ärgerlich ist oder auch nur banal, wird allerdings dadurch ausgeglichen, dass er dies ohne moralisierenden und rechthaberischen Gestus des Belehrens praktiziert und mit erzählerischen Experimenten, die überraschende Reize haben. Die Empathie mit den geschilderten Personen geht mit einer auffälligen Distanz des Ich-Erzählers zu ihnen einher. Ausdrückliche Bewertungen seiner Figuren vermeidet er, seine Empathie ist nicht mit Sympathie oder Identifikation gleichzusetzen. Seine Schilderungen bestimmter Situationen lassen Widersprüche offen, die zu klären er sich weigert. Und über sich selbst erzählt Rathgeb zwar etwas mehr als über seine in dem Buch aus rätselhaftem Grund völlig abwesende Mutter, aber ebenfalls bemerkenswert wenig. Erst im letzten Kapitel ändert sich das.

Eine Art Rahmenhandlung für die verschiedenen Erzählungen ist das von ihm und der Familie begleitete Sterben seines Vaters. Anders als der Großvater, der in Argentinien in seinem Bett eingeschlafen war und nicht mehr aufwachte, „mühte er sich ab mit dem Sterben“, lag nicht „daheim“, sondern in einem weißen und kahlen Krankenhauszimmer. Die bemühte Nähe der ihm nahestehenden Besucher konnte sein Sterben in der fremden Umgebung erleichtern. „War er wach und waren wir zu zweit im Krankenzimmer, unterhielten wir uns laut, damit er uns hörte. Er soll wissen, dass wir in seiner Nähe sind, dachten wir, dass er nicht allein ist. Unsere Stimmen würden ihn trösten.“ Und dann wechselt das Erzählen vom „Wir“ zum „Ich“ über: „Wenn ich alleine die Nachtwache übernahm, las ich ihm aus einem Buch über Stifter vor, den er liebte.“ Stifter und andere deutsche Klassiker, die der Vater in Argentinien gelesen hatte, waren für ihn eine Art Heimat. Über sich selbst berichtet der Ich-Erzähler weiter nichts. Und unklar bleibt auch, warum dieses fünfte von insgesamt 19 Kapiteln mit „Die Angst vor der letzten Heimat“ überschrieben ist. Der Tod als letzte Heimat?

Rathgebs später immer wieder aufgenommenen Erzählungen vom Sterben seines Vaters lassen offen, was sie genau mit dem Gefühl von Heimat zu tun haben. Dass das Vorlesen aus Stifters Erzählungen ihm, dem Vater, noch einmal ein vertrautes Heimatgefühl verschaffen könnte, erweist sich gegen Ende als Illusion. Den endgültig Sterbenden vergleicht das 17. Kapitel mit einem Flüchtling, der seine Heimat verloren hat: „Ehemals ein Bewohner der Erde, jetzt nicht einmal mehr ihr Gast, sondern einer ohne Bleiberecht, der gehen musste, weggeschickt wurde ins Ungewisse. Nur Gläubige würden sagen, er ginge heim.“ Er war „ein Häuflein Elend“, so endet das Kapitel, „Haut und Knochen, Blut, Schleim und Unrat, ein Unberührbarer, ohne Zuflucht, ohne Zuhause, ohne Heimat.“ Warum nur ist dieses Kapitel mit „Heimkehr“ überschrieben? Ist das heimliche, bittere Ironie?

Die beiden abschließenden Kapitel sprechen dafür. Das 18. („Heimweh“) erzählt die Geschichte von heimwehkranken Jugendlichen, über die Karl Jaspers 1909 eine Dissertation über Heimweh und Verbrechen vorgelegt hatte. Sie wurden zu Mördern in der Fremde, um wieder heimkehren zu können – vergeblich. Und in diesem Kapitel bezieht der Ich-Erzähler zum ersten Mal und überraschend ausdrücklich eine eigene Position, übt offene Kritik an destruktiven Heimatgefühlen:

Das Beste, was einer tun kann, ist, sich selbst weit in die Fremde hinauszuwagen und den alten Ballast, der zum Gehen nicht notwendig ist, abzuwerfen, auf dass die eigene Heimat, der Ausgangspunkt für Exkursionen, offener werde, poröser, lichter und für andere heimischer. Heimatgefühle, die an Nationen gebunden sind […], gerinnen zu Vorurteilen‚ Barrieren und Behinderungen, intellektuelles und emotionales Material aus dem 19. und 20. Jahrhundert, mit dem sich Barrikaden bauen und  Kriege führen lassen.

Im letzten Kapitel („Späte Einsicht“) schließlich erzählt Rathgeb bzw. das Ich seines Buches erstmals ausführlicher über sich selbst. Erst der Tod des Vaters hat ihn dazu gebracht, sich auf die Suche nach deutschen Heimatgefühlen zu begeben. „Ich habe lange, aus Empörung, Widerwille, Distanz, Überdruss, nicht einmal darüber nachdenken wollen, erst als mein Vater starb“. Die Distanz zum Vater bleibt trotzdem erhalten, weil dieser nicht sehen wollte, was der Sohn nicht übersehen konnte: eine Szene in Deutschland, die dieses Kapitel eindrücklich vor Augen hält: Jüdische Eltern verabschieden sich mit Tränen in den Augen von ihren Kindern, die von ihnen ins Ausland geschickt werden, um sie zu retten. Am Anfang war Abschied, auch hier.

In seiner Phantasie nimmt der Sohn den toten Vater bei der Hand, führt ihn durch Großstadtstraßen, in denen er nicht leben wollte, und versucht ihm zu erklären, was Heimat für ihn selbst bedeutet und worin er sich darin von ihm unterscheidet. Und Rathgeb lässt den Sohn bzw. sich selbst mit einer Anspielung auf Thomas Manns Zauberberg sagen: „Du darfst dem Gefühl, einsam zu sein keine Herrschaft über dich einräumen“. Das Mittel gegen dieses Einsamkeitsgefühl ist, wie der Sohn weiter erklärt, sich mit anderen Menschen durch das gegenseitige Erzählen der eigenen Geschichte zu verbinden. Die Geschichte, die Rathgeb am Ende über sich erzählt, ist der Flug nach und die Ankunft in Buenos Aires, dem Ort seiner ersten Kindheitsjahre. „Es war dort alles anders, aber noch genauso, wie es gewesen war, als ich mit meinem Dreirad hier auf den Bürgersteigen unterwegs gewesen war.“ Dieser letzte Satz ist so paradox wie Vieles in dem Buch: „alles anders, aber noch genauso“.

Titelbild

Eberhard Rathgeb: Am Anfang war Heimat. Auf den Spuren eines deutschen Gefühls.
Blessing Verlag, München 2016.
384 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783896675415

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