Ein merkwürdiger Blick auf das nationalsozialistische Deutschland

Die Interviews der Engländerin Ernestine Amy Buller aus den Jahren 1934 bis 1938

Von Maren LickhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maren Lickhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Übersetzung aus dem Englischen gibt Anlass, die deutsche Geschichte der 30er Jahre unter einer merkwürdigen Perspektive zu betrachten. Die Engländerin Ernestine Amy Buller (1891-1974), ehemalige Geschichtsstudentin und Mitglied des Student Christian Movement mit Kontakt zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen in England, unternahm zwischen 1934 und 1938 zahlreiche Reisen nach Deutschland, um ein Stimmungsbild der deutschen Bevölkerung zu zeichnen. Dies gestaltete sich als „diplomatischer Drahtseilakt“, wie der Herausgeber Kurt Bartling, feststellt. Der Dialog mit allen Deutschen, das heißt auch der NSDAP-Führung oder Mitarbeitern von Joachim von Ribbentrop, dem zeitweiligen Botschafter Deutschlands in London, barg die Gefahr, für NS-Propaganda instrumentalisiert zu werden. Der differenzierte Blick auf Deutschland weckte in England Misstrauen.

Buller war sich all dessen absolut bewusst. Mit Umsicht veröffentlichte sie dennoch 1943, also wenige Jahre nach der Luftschlacht um England und auf dem Höhepunkt des Krieges, die erste und für lange Zeit einzige Auflage ihres Deutschlandreports. Es fällt schwer, sich aus heutiger Sicht in die Gemütslage der Engländer zu dieser Zeit hineinzuversetzen, aber zumindest ist nicht viel nötig, um sich vorzustellen, wie irritierend Bullers Publikation auf ihre Zeitgenossen gewirkt haben mag.

Nun ist Irritation nicht zwingend ein negativer Begriff, sondern ein Reiz, mit dem gegebenenfalls produktiv umgegangen werden kann, und so kam es, dass Buller im Zuge dieser Publikation von Queen Elizabeth, der Ehefrau Georges VI., empfangen wurde, das St. Catherines College gründen konnte und die Cumberland Lodge Stiftung ins Leben gerufen hat, die heute noch in der Cumberland Lodge im Great Windsor Park als Stätte für wissenschaftliche und intellektuelle Begegnungen angesiedelt ist. Von diesen Erfolgen unbenommen, war Buller aufgrund ihres deutschlandfreundlichen Engagements allerdings auch im Visier des MI5. Die Lebensgeschichte dieser Frau und die vielfältigenden Folgen dieser Publikation sind faszinierend

Ernestine Amy Buller wollte das Unbegreifliche verstehen und herausfinden, warum und wie sich die Jugend eines zuvor noch aufgeklärten Landes derart radikalisieren könnte, dass es zur NS-Regierung und dem Zweiten Weltkrieg kommen konnte. Sie wollte außerdem ein komplexes Bild von Deutschland vermitteln, um im Falle des englischen Siegs, von dem sie fest ausging, eine milde Behandlung des Verlierers zu erwirken, damit weitere Katastrophen verhindert werden würden. Um es vorweg zu sagen: Die Irritation über diese Publikation ist heute, 71 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, möglicherweise noch größer als im England der 40er Jahre. Wirklich niemand kann mehr über den Völkermord an Juden und andere Kriegsverbrechen hinweg sehen. Daher tut die Lektüre bisweilen weh, die in ein Alltagsszenario einführt, das all jene Aspekte weitgehend ausblendet. Die Irritation, die durch diese Perspektive entsteht, kann man gleichwohl als Gewinn einschätzen.

Zunächst einmal zum Verfahren. Bei Bullers Text handelt es sich um Doku-Fiction. Er ist eine Mischung aus Anekdoten, Augenzeugenberichten und Recherchen. Die Verfasserin beschreibt selbst in ihrem Vorwort das Vorgehen der Verdichtung: Sie änderte Namen, um Personen zu schützen, und schreibt repräsentative Aussagen unterschiedlicher Art teilweise einer einzelnen realen oder erfundenen Person zu. Außerdem durchziehen Bullers eigene Überlegungen den Text. So wundert es nicht, dass die Aussagen ihrer Gesprächspartner im Wesentlichen Bullers Thesen spiegeln. Historische Authentizität, was auch immer das sein mag, kann ein Dokument nicht liefern, das als Reisebericht aus der Erinnerung geschrieben wurde und von starken persönlichen Wertungen durchdrungen ist, und so lesen wir im Wesentlichen, wie Buller Deutschland zeichnen wollte, was die Lektüre gerade reizvoll macht. 

Buller sieht die Gründe für das Aufkommen des Nationalsozialismus vor allem in einem Sinn-, Orientierungs- und Identitätsverlust der Deutschen. Der Nationalsozialismus wird als Religionsersatz und Hoffnungsträger für eine verstörte junge Generation beschrieben. Die Versailler Verträge thematisiert Buller wiederholt als zu harte, zu demütigende Maßnahme, die der Nationalsozialismus kompensieren konnte. Gerade wo diejenigen deutschen Stimmen zu Wort kommen, die sich nicht nachdrücklich vom Nationalsozialismus distanzieren, werden die Mechanismen des nationalsozialistischen Erfolgs deutlich. Der Offizier sieht sich in Hitlers Schuld, weil dieser das Ansehen der beschädigten Armee gestärkt habe. Wiederholt artikuliert sich die Angst vor dem Kommunismus, vor dem Hitler schützen würde. Junge Studenten fühlen sich von Hitler vor der Arbeitslosigkeit gerettet. Und es wird immer wieder angemerkt, dass der Adel, die Bildungsbürger und Intellektuellen keine anderen Angebote zur Reduktion all jener Komplexe und Ängste hatten. Heute mögen das keine tiefgreifenden Einsichten mehr sein. Wenn man aber Entstehungszeit und Rezeptionsraum bedenkt, ist der Text bemerkenswert.

Buller widmet sich vornehmlich NS-Gegnern: Der Geographielehrer, der den anti-intellektualistischen Gestus der NS verachtet, kommt ebenso zur Sprache, wie die progressive Frau, die Jüdinnen zu helfen versucht, oder auch der Pfarrer, der den Hitler-Gruß verweigert und bei seinem bayrischen ‚Grüß Gott‘ bleibt. Diese Typen artikulieren ihr eigenes Versagen, dass sie die Gefahr zu spät erkannt und den Nationalsozialismus nicht ernst genug genommen haben. Viele versuchen ihr Mitlaufen zu legitimieren, und hier wird es so richtig interessant. Die invalide Frau hindere an der Emigration. Man könne aus dem Exil oder dem Gefängnis heraus auch nichts ausrichten. Es bleibe immer noch möglich, zur Aufklärung der Menschen im Landesinneren beizutragen. Man könne seine Kinder nicht durch den Widerstand gefährden. Es handele sich beim Nationalsozialismus um ein Übergangsphänomen. Man müsse auch ungeliebten Machthabern sein Wissen zur Verfügung stellen. Die Partei könne durchaus von innen verändert werden.

Ernestine Amy Buller zeigt Verständnis für diese Menschen. Sie möchte dieses Deutschland, das es zweifellos auch gegeben hat, in Szene setzen, weil es ihr um Aufklärung und Verständigung geht. Mitten im Krieg, den England engagiert gegen Deutschland geführt hat, schürt eine Engländerin keinen Zorn, sondern denkt in einem bemerkenswerten Unterfangen schon an die Sicherung des nächsten Friedens.

Aus heutiger Sicht darf man nicht so nachsichtig sein. Aber auch Buller selbst enthüllt immer wieder die niedrigsten menschlichen Beweggründe, die ein totalitäres System am Laufen halten können. Ganz nebenbei wird deutlich, wie kleine Schulleiter ihre ersehnte Karriere im Fahrwasser ihrer Partei machen, wie junge Leute jenseits existentieller Probleme ihre beruflichen Aufstiegschancen wittern. Buller stellt klar heraus, dass Moral sehr leicht unterdrückt werden kann, wenn es um persönlichen Machtzuwachs geht. Einmal mehr wird deutlich, wie banal das Böse sein kann, das in dem religiös grundierten Text explizit als solches benannt wird. Und es enthüllt sich in den Ausführungen Bullers recht unverstellt, obwohl ihr  nicht daran lag, Menschen an den Pranger zu stellen. Mein größter Stolperstein im Text ist die Aussage einer Deutschen: „Unser großer Fehler war, nicht zu merken, dass die Judenverfolgung erst der Anfang war.“ Die Judenverfolgung allein wäre also noch in Ordnung gewesen???

Den Personen, denen Buller eine Stimme verleiht, kann heute kein Verständnis mehr entgegen gebracht werden. Bullers Projekt war im England von 1943 jedoch ehrenwert. Die Verfasserin erweist sich als bemerkenswerte Persönlichkeit. Und die heutige Lektüreerfahrung ist befremdlich im besten Sinn. Man liest nichts, was man nicht schon einmal gehört hätte. Der Gewinn der Lektüre besteht nicht in neuen Erkenntnissen, aber die historische und nationale Verschiebung der Perspektiven führt beim Lesen zu interessanten reflexiven Prozessen zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung.

Titelbild

Ernestine Amy Buller: Finsternis in Deutschland. Was die Deutschen dachten. Interviews einer Engländerin 1934-1938.
Herausgegeben von Kurt Barling.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Pfingstl.
Elisabeth Sandmann Verlag, München 2016.
352 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783945543092

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