Der Blick auf ein metallisches Blau

Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“

Von Jerker SpitsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jerker Spits

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joachim Reither ist „der Welt des müden Lachens entkommen“. Er hat seinen Kleinstverlag liquidiert, der Großstadt den Rücken gekehrt und ist in eine Wohnung mit Blick auf Wiesen und Berge gezogen. Reither hat all seine Rechte und seinen alten Toyota-Kombi verkauft. An einem Abend klingelt es an der Tür. Leonie Palm stellt sich vor. Sie hatte einen Hutladen in der Hauptstadt ebenfalls aufgelöst, weil es für ihre Hüte „immer weniger Gesichter“ gab.

Der vierundsechzigjährige Reither und die etwas jüngere Leonie machen einen Ausflug zum Achensee, mit ihrem Cabrio. Aber schon geht es über den Brenner, nach Italien. „Hinter Ancona ging es weiter am Meer entlang, auch wenn das Meer mal hinter Landzungen verschwand, mal nur aufblitzte zwischen grünen Hügeln; dann aber lag es wieder offen da, davor höchstens ein Streifen Ödland, niedere Büsche und Dünen, ab und zu ein verlassenes Haus, als sei das nichts: der Blick auf ein metallisches Blau bis zum Horizont – die Adria, auch eine Frau könnte so heißen.“ Bodo Kirchhoff erzählt scheinbar einfach über einen Sturz in die Liebe. Denn schon schnell wird Leonie die Frau, die Reither nicht mehr verlieren will, obwohl er sie kaum kennt. 

Wie in Kirchhoffs Verlangen und Melancholie von 2014 ist die Hauptperson ein etwas älterer Mann. Hatte der Protagonist Hinrich in dem Roman seine Zeit als Kulturkorrespondent bei einer großen Zeitung hinter sich. so hat Reither Abschied von seinem „Kleinstverlag samt Miniaturbuchhandlung“ genommen. Beide Männer haben sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Doch während Hinrich neun Jahre nach dem Freitod seiner Frau allein ist und in der Erinnerung lebt, fasst Reither Mut. „Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung“, sagt er kurz bevor er Leonie küsst, „jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben.“

Kirchhoff beschreibt Orte und Emotionen, aber lässt dem Leser genug Raum, seine eigenen Gedanken zu entwickeln. Er erzählt gefühlvoll, mit genauen Beobachtungen, aber nicht sentimental. Das gilt auch für die Beschreibung eines kleinen Mädchens, das sich Reither und Leonie auf Sizilien anschließt und kein Wort redet. Und es gilt für die Flüchtlingscamps am Brennerpass.

Widerfahrnis ist mit 224 Seiten eine umfangreiche Novelle, eigentlich schon ein kleiner Roman. Kompakt, auf weniger Raum als in Verlangen und Melancholie (440 Seiten), bringt Kirchhoff dem Leser die beiden Hauptfiguren sehr nahe. „Ich habe bei meinen Büchern nie einen Plan, sondern immer nur eine oder zwei Figuren einigermaßen vor mir, und versuche dann, diese Personen näher kennenzulernen“, erklärte der Autor in einem Gespräch mit der Zeit.

Die Novelle ist mit Recht nominiert für den Deutschen Buchpreis 2016. „Man gerät in den Sog einer Erzählkunst, die ihresgleichen sucht in der gegenwärtigen deutschen Literatur“, schrieb Hajo Steinert über Kirchhoff in Die literarische Welt. Gleiches gilt für Widerfahrnis. Widerfahrnis ist eine meisterhaft komponierte Novelle, in wunderschönen, klaren Sätzen geschrieben. Eine Novelle über zwei Personen, die beide nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet waren.

Titelbild

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Eine Novelle.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2016.
224 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002282

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