Taten, nicht Worte

Die deutsche Übersetzung der Erinnerungen von Emmeline Pankhurst wurde nach 20 Jahren endlich neu aufgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Jahrzehnten nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den USA nicht nur der Kampf gegen die Sklaverei erfolgreich zu Ende gebracht. Auch die Frauen rangen um ihre Emanzipation. Ihr Kampf galt insbesondere dem Recht, zu wählen und sich wählen zu lassen, das den ehemaligen Sklaven 1870 zugestanden wurde. So bewarb sich etwa Victoria Woodhull zwei Jahre später als erste Frau um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten. Gewählt wurde sie allerdings nicht, sondern sie musste den Wahltag vielmehr in einer Gefängniszelle verbringen. Doch schwoll die Erste Welle der Frauenbewegung in den folgenden Jahrzehnten nicht nur in den USA, sondern auch in zahlreichen europäischen Staaten bis zur Wende zum 20. Jahrhundert kraftvoll an. Dabei ging es nicht zuletzt darum, das Frauenwahlrecht überhaupt erst einmal zu erkämpfen, über dessen Verweigerung sich Woodhull 1872 einfach hinweggesetzt hatte und für das höchste Amt im Staate angetreten war, ohne sich darum zu scheren, dass nur Männern das Recht zugesprochen wurde, zu wählen und sich wählen zu lassen. Woodhull verließ 1877 die Vereinigten Staaten und ging nach England, wo sie bis zu ihrem Tod 1927 lebte.

Dass die englischen Suffragetten im neuen Jahrhundert mit einer Radikalität um das Frauenwahlrecht zu kämpfen begannen, wie sie bislang sicher selbst für die überaus unkonventionelle Woodhull unvorstellbar gewesen war, war allerdings nicht der ersten Präsidentschaftskandidatin in den USA, sondern Frauen wie Emmeline Pankhurst zu verdanken. Die Originalausgabe erschien 1914 unter dem Titel My Own Story und richtete sich ganz offenbar an die US-amerikanische Öffentlichkeit ihrer Zeit, namentlich an Pankhursts dortige GesinnungsgenossInnen, die ebenfalls noch immer für das Frauenwahlrecht streiten mussten.

Agnes S. Fabian und Hellmut Roemer haben Pankhursts Text bereits vor 20 Jahren für die 1996 erschienene erste deutschsprachige Ausgabe übertragen. Wie die Rückseite des Vorblattes der nun vorliegenden Neuausgabe informiert, haben sie ihre damalige Übersetzung für die vorliegende Ausgabe „gründlich überarbeitet“. Zudem wurde er mit einem neuen Titel und einigen erläuternden Endnoten versehen. Hilfreich wäre zudem ein Personenregister gewesen. Und auch die Endnoten vermögen nicht immer zufrieden zu stellen. So etwa wenn Henry Ward Beecher nur als „Bruder von Harriet Beecher Stowe, bekannter nordamerikanischer Prediger und Moralist, Kämpfer für die Sklavenbefreiung“ vorgestellt wird, ohne dass ein einziges Wort über seine Haltung zur Frauenemanzipation fällt. Auch über John Stuart Mill erfährt man lediglich, dass er  ein „bedeutender Englischer Philosoph und Volkswirt“ sowie ein „liberaler Unterhausabgeordneter“ war. Viel wichtiger aber wäre es gerade im Kontext des vorliegenden Buches gewesen, auf seinen Einsatz für die Gleichstellung der Frauen einzugehen. Eine der ersten Endnoten wiederum betrifft den im Text vorkommenden Ausdruck „Negerskalven“. Fabian und Roemer betonen ausdrücklich, dass sie „hier dem Sprachgebrauch der Autorin [folgen]“. Aber sollte man nicht meinen, dass das für Übersetzungen stets selbstverständlich wäre? Für Fabian und Roemer nicht. Stilistische und andere narrative Mängel des englischsprachigen Originals monieren sie jedoch durchaus zu Recht. Denn Pankhursts Erinnerungen sind wahrhaftig keine literarische oder erzähltechnische Meisterleistung. Ob dies darauf zurückzuführen ist, dass der Text, wie die ÜbersetzterInnen vermuten, „rasch diktiert und kaum redigiert worden“ ist, mag dahingestellt sein. Jedenfalls rechtfertigt es nicht, dass das Duo nach eigenem Gutdünken „an einigen Stellen […] Kürzungen vorgenommen und andere behutsam geglättet“ hat. Für die Forschung ist der Band damit nur bedingt brauchbar. Und zu einem Lesevergnügen haben die Eingriffe den Text auch nicht gemacht.

Die Autorin wurde 1958 unter dem Namen Emmeline Goulden in Manchester geboren und sympathisierte schon früh mit der Frauenstimmrechtsbewegung, für die sie sich bereits im Alter von gerade einmal 18 Jahren engagierte. Dabei lernte sie Richard Marsden Pankhurst kennen, von dem sie in ihren Erinnerungen stets als „Dr. Pankhurst“ spricht, obwohl sie den nahezu ein Vierteljahrhundert älteren Rechtsanwalt 1879 ehelichte. Sie selbst war damals erst 21 Jahre alt. Von dem großen Altersunterschied schweigt die Autorin allerdings. Doch verrät sie, dass sie „19 glückliche Jahre“ lang verheiratet war. Die Ehe endete mit dem Tod Richard Pankhursts, der 63-jährig verstarb. Seine fast befremdlich distanziert wirkende Adressierung als „mein Mann Dr. Pankhurst“ dient der Autorin wohl seiner und somit auch ihrer eigenen Nobilitierung, vor allem aber derjenigen des gemeinsamen Anliegens, der Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Aus der Ehe gingen drei Töchter und zwei Söhne hervor, von denen einer noch im Vorschulalter verstarb. Zwei der Töchter, Christabel (1880–1958) und Sylvia (1882–1960) stritten schon als Heranwachsende mit ihrer Mutter für die Frauenrechte und waren dabei keineswegs weniger radikal als diese. „Schon als kleine Mädchen“ hatten sie die Autorin „weinend darum gebeten, zu den Versammlungen mitgenommen zu werden“. Ihre Namen sollten in der englischen Frauenbewegung später ebenso klangvoll werden wie derjenige ihrer Mutter.

Von den Aktivitäten für das Frauenstimmrecht aus der Zeit bis zum Jahr 1903 berichtet Pankhurst nur relativ kurz, denn die Geschichte der Frauenbewegung sei bis dahin „voll von Wiederholungen“ zahlloser erfolgloser Eingaben und Petitionen sowie abgelehnter Gesetzesvorlagen für das Frauenstimmrecht gewesen – und somit eben nicht sonderlich berichtenswert.

Dafür erzählt die Autorin im ersten, Wie ich Suffragette wurde betitelten Teil ihrer Erinnerungen davon, dass sie 1893 in den Ausschuss für Armenrechtspflege ihrer Heimatstadt Manchester gewählt wurde und die dortige Tätigkeit eine prägende Erfahrung für sie und ihren Kampf um die Rechte der Frauen war. Denn bei den Armen handelte es sich nicht eben selten um ledige Mütter, die als „junge Hausangestellte“ geschwängert worden waren. Von den Vätern berichtet sie zwar nicht, doch gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass es sich bei ihnen in aller Regel um die Hausherren respektive deren erwachsene Söhne gehandelt haben dürfte.

Nach dem Tod ihres Mannes gab Pankhurst das Ehrenamt auf und wurde – nun gegen Entgelt – als Standesbeamtin tätig. Auch hier wurde sie wieder mit einem ähnlichen, gar noch größeren Elend konfrontiert: „Kleine Mädchen im Alter von dreizehn Jahren kamen zu mir ins Büro, um die Geburt ihrer Kinder anzumelden, unehelichen Kindern natürlich. Ich fand heraus, dass häufig der eigene Vater oder ein naher männlicher Verwandter für den Zustand des Mädchens verantwortlich war, doch in den meisten Fällen konnte man nichts tun.“ Denn schließlich, so Pankhurst, könne ein Mann „immer behaupten, er habe geglaubt, das Mädchen sei älter gewesen“. Im Falle von nahen Verwandten oder gar dem Vater des Kindes dürfte eine solche Ausrede allerdings wenig glaubhaft gewesen sein, abgesehen davon, dass sich zumindest letzterer vermutlich auch nach damaliger englischer Rechtsprechung des Missbrauchs oder zumindest der Inzucht schuldig gemacht hätte.

Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht aber nahm erst mit Englands „militanter Wahlrechtsorganisation“ Women’s Social and Political Union (W.S.P.U.) richtig Fahrt auf, die im besagten Jahr 1903 nach einem Besuch der Grand Dame der US-amerikanischen Frauenrechtsbewegung Susan B. Anthony gegründet wurde. In dieser Zeit lernte Pankhurst auch ihre langjährige Mitstreiterin Annie Kenney (1879-1953) kennen.

Die Mitgliedschaft in der W.S.U.P. war auf Frauen beschränkt, Verbindungen zu Parteien waren verpönt und ihr Motto lautete Taten statt Worte. Denn die Organisation wollte „das Wahlrecht für Frauen sofort verlangen, und zwar nicht mit Hilfe altmodischer Überzeugungsarbeit, sondern durch politische Aktion“. Ob ihre Methoden als ‚damenhaft‘ oder ‚gutes Benehmen‘ durchgehen konnten, interessierte die Suffragetten nicht, sondern nur, ob sie dazu beitragen würden, das Frauenwahlrecht zu erreichen.

Bereits am 12. Mai 1905 wurde eine „Protestversammlung“ von der Polizei als „erste militante Aktion der W.S.P.U.“ aufgelöst. Im Herbst des gleichen Jahres fertigten Suffragetten ein „großes Transparent“ mit der Aufschrift Wird die Liberale Partei den Frauen das Stimmrecht geben? an, das sie auf einer Veranstaltung der Partei aufhängen wollten. Doch bekamen sie keine Plätze auf der Galerie des Versammlungsortes, sodass sie das Tuch zu einer kleinen Fahne zerschnitten, die sie im Saal hochhalten konnten. Auf ihr fand nur noch die knappe Forderung Wahlrecht für Frauen Platz. „So entstand, eher zufällig, der jetzige Slogan der Wahlrechtsbewegung in der ganzen Welt“. Die demonstrierenden Frauen wurden unter Tumult aus dem Saal geworfen und nach fünfminütigem Protest vor dem Gebäude wegen „Verkehrsbehinderung“ und „tätlichem Angriff auf die Polizei“ festgenommen. Bald darauf wurde Pankhursts Tochter Christabel und Mrs. Kenney der Prozess gemacht, in dem sie zu Geld- ersatzweise Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Beide weigerten sich, die Strafe zu zahlen und saßen stattdessen die Haft ab.

Die Presse reagierte empört – nicht etwa über Festnahme und Verurteilung, sondern über die sich ‚unziemlich‘ verhaltenden Frauen. Doch sorgte nicht zuletzt die negative Berichterstattung dafür, dass die W.S.P.U. eine „große Anzahl neuer Mitglieder“ bekam und die „Frauenfrage auf einmal in ganz England ein wichtiges Thema“ wurde.

Am 19. Februar des folgenden Jahres, dem Tag der Parlamentseröffnung, erlebte London zum ersten Mal eine Demonstration für Frauenwahlrecht. „Diese Frauen“, freute sich Pankhurst, „waren endlich aufgewacht. Sie waren bereit, etwas zu tun, was Frauen niemals zuvor getan hatten: für sich selbst zu kämpfen. […] Unsere militante Frauenbewegung war begründet.“

Doch beschränkten sich die Frauen nicht darauf, nur durch London zu ziehen. Ein ums andere Mal belagerten die Suffragetten in diesen Jahren die Downingstreet 10, um ihr Recht wahrzunehmen, Petitionen zu überreichen. 1906 gelang es ihnen, bis zum Premierminister vorzudringen, wurden aber von Sir Henry Campbell-Bannerman mit ein paar Floskeln abgespeist, man sei ja für das Frauenwahlrecht, aber sie müssten sich leider noch etwas gedulden. Pankhurst erwiderte ihm „dass die in unserer Union organisierten Frauen die Notwendigkeit des Frauenwahlrechts so stark empfänden, dass sie bereit seien, ihren ganzen Besitz dafür zu opfern, ja sogar ihr Leben, wenn es sich als nötig erweisen sollte“. Das war keineswegs übertrieben, wie die weitere Geschichte der Suffragetten zeigen sollte. So warf sich Emily Davison (1872–1913) im Jahr 1913 während des Epsom Derbys aus Protest vor das Pferd von König Georg V. und wurde zu Tode getrampelt. Sie sei hier namentlich genannt, doch ist es, wie auch Pankhurst erklärt, „unmöglich, alle Frauen aufzuzählen, die im Laufe des Kampfes um das Frauenwahlrecht in England starben oder lebensgefährlich verletzt wurden“.

Zwischen Pankhursts Begegnung mit dem Premierminister und dem Tod ihrer Mitstreiterin lagen sieben Jahre. Über vier von ihnen, die Zeit von 1907 bis 1910, berichtet die Autorin im zweiten Teil unter dem Titel Vier Jahre friedlichen Kampfes. Friedlich war aber auch diese Zeit ausschließlich von Seiten der Suffragetten, und das auch nur im Vergleich zu dem, was nach 1910 geschehen sollte. So wurden sie schon am 13. Februar 1907 ganz unfriedlich von berittenen Polizisten daran gehindert, eine Resolution im Unterhaus zu überreichen. Auf dem Weg dorthin kamen die Ordnungshüter „in schnellem Trab“ auf die Abordnung der Suffragetten zu und „fünf Stunden tobte ein unbeschreiblich grausamer und brutaler Kampf“, in dessen Verlauf 57 Frauen und zwei Männer festgenommen und am nächsten Tag unter Anklage gestellt wurden. Alleine in den ersten beiden Monaten dieses Jahres wurden insgesamt mehr als 130 Suffragetten verhaftet, die sich nichts weiter hatten zu Schulden kommen lassen, als zu versuchen, im Unterhaus eine Petition zum Frauenwahlrecht zu überreichen.

Die Strafen waren angesichts der Vorwürfe drakonisch. Pankhurst selbst wurde in ihrer ersten Gerichtsverhandlung zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Zudem wurden alle gefangenen Frauen in Einzelhaft gehalten, sodass nicht wenige noch lange nach ihrer Entlassung an „zerrütteten Nerven“ litten. Im Laufe der Zeit fühlten sich die Suffragetten daher „mehr und mehr […] zu einer militanten Haltung gezwungen“. Denn „die Argumente waren erschöpft“.

Bevor die Suffragetten allerdings zu wirklich militanten Aktionen übergingen, veranstalteten sie eine Großdemonstration im Hyde Park. Bei der bis dahin größten Protestaktion, die der Park im Herzen Londons erlebt hatte, waren 72.000 Menschen zusammengekommen. Dieser Rekord sollte nun gründlich in den Schatten gestellt werden. Nach der Protestaktion der Suffragetten schrieb die London Times, dass die Veranstalterinnen 250.000 DemonstrantInnen erwartet hatten. Sicher seien doppelt, wenn nicht gar dreimal so viele gekommen.

Das Parlament und der Premierminister jedoch zeigten sich unbeeindruckt und schon eine Woche nach der Massendemonstration wurden zwei Frauen verhaftet, weil sie Steine in die Fenster der Downing Street 10 geworfen hatten, in der nun Herbert Henry Asquith residierte. Es war das erste Mal, dass Suffragetten Fensterscheiben eingeworfen hatten; der Schaden betrug 2,40 Dollar, wie die Autorin für ihr US-amerikanisches Publikum umrechnet.

In den nächsten Wochen, Monaten und Jahren gingen noch zahlreiche weitere Scheiben zu Bruch, was ebenso wie militantere Aktionen und auch die Demonstrationen zu einer weiter steigenden Zahl von Verhaftungen führte. Unter den Festgenommenen war wiederum Pankhursts Tochter Christabel. Sie hatte zwar Rechtswissenschaften studiert, doch war es Frauen nicht gestattet, als Juristinnen tätig zu sein. Dennoch wurde ihrem Antrag stattgegeben, in einem gegen sie, ihre Mutter und eine weitere Suffragette angestrengten Verfahren „die Rolle der Angeklagten und der Verteidigerin auf sich zu vereinen“ und alle drei juristisch zu vertreten. Die Juristin selbst erhielt mit zehn Monaten Haft die härteste Strafe der drei Angeklagten.

In einer ihrer Verteidigungsreden kritisierte Emmeline Pankhurst nicht nur das konkrete Verfahren gegen sie, sondern das englische Rechtssystem überhaupt und „sprach ziemlich lange über diese Gesetze, die es dem Richter ermöglichen, mich bei einer Verurteilung für vierzehn Jahre ins Zuchthaus zu schicken, während die Höchststrafe für übelste Vergehen an kleinen Mädchen nur zwei Jahre Gefängnis beträgt. Die Erbschaftsgesetze, die Scheidungsgesetze, die Gesetze über die Vormundschaft bei Kindern, sie alle sind gegen Frauen empörend ungerecht“. Zudem sprach sie den Geschworenen und dem Richter das Recht ab, überhaupt über sie zu urteilen: „Sie haben kein Recht, über  mich zu urteilen, weder nach menschlichem Ermessen noch nach der Verfassung des Landes, wenn man sie richtig interpretiert, denn Sie sind nicht meinesgleichen. Sie wissen, jeder von Ihnen, dass ich nicht ein einziges Gesetz übertreten würde, wenn ich die Rechte hätte, die Sie haben.“ Das hinderte die Herren allerdings nicht, sie zu drei Jahren Zuchthaus zu verurteilen.

Im Jahr 1909 forderten die inhaftierten Suffragetten ihre Anerkennung als politische Gefangene, was ein Ende der Einzelhaft, die Verlegung in ein besseres Gefängnis und die Erlaubnis, eigene Kleidung zu tragen, bedeutet hätte. Immerhin „hatten Kabinettsminister im Zeugenstand zugegeben“, dass die Frauen „politische Straftäterinnen“ waren, argumentiert Pankhurst.

Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, unternahmen die gefangenen Suffragetten zahlreiche Hungerstreiks. Die erste, die zu diesem Mittel der (vermeintlich) Wehrlosen griff, war die damals 45-jährige Marion Wallace Dunlop (1864–1942). Sie war im Juli 1909 ins Gefängnis geworfen worden, weil sie die ersten Worte der „Bill of Rights“ an die Außenwand des Britischen Unterhauses geschrieben hatte. Wallace Dunlop begann ihren Hungerstreik offenbar aufgrund einer spontanen Entscheidung unmittelbar nach der Einlieferung in das Gefängnis, ohne sich mit ihren Mitstreiterinnen draußen oder drinnen abstimmen oder sie auch nur informieren zu können. Wegen ihres bald angegriffenen Gesundheitszustandes wurde sie ‚vorzeitig‘ entlassen. Fortan folgten alle gefangenen Suffragetten ihrem Beispiel. Unter ihnen die später in der US-amerikanischen Stimmrechtsbewegung an der Seite von Alice Paul (1885–1977) kämpfende Lucy Burns (1879–1966).

Die Behörden reagierten bald mit Zwangsernährung. Bei dieser barbarischen Prozedur wurden die Frauen zunächst auf Stühlen fixiert und ihnen Gummischläuche über den Mund oder die Nase in den Magen geführt. Eines „der scheußlichsten und brutalsten Mittel“, „zu denen je Gefängnisbehörden gegriffen haben“, wie Pankhurst klagt. Manchmal gelang es bei der lebensbedrohlichen Tortur nicht, den Schlauch in die Speiseröhre einzuführen, sodass die Nährflüssigkeit in die Lunge gepumpt wurde. Die erste zwangsernährte Suffragette war die 25-jährige Mary Leigh (1885–1978). Die Suffragetten unterstützten ihre gefangenen Mitkämpferinnen „zu Tausenden“, indem sie vor den Gefängnissen demonstrierten. Später wurde das sogenannte „Katz-und-Maus-Gesetz“ erlassen, nach dem Suffragetten, die sich im Hunger- und nun auch Durststreik befanden, kurz bevor sie ins Koma fielen, als haftunfähig entlassen wurden. Kaum ging es ihnen jedoch wieder etwas besser, wurden sie erneut inhaftiert. Bis Ende 1909 waren etwa 450 Suffragetten in Haft genommen worden.

Die Suffragetten griffen in der Folge zu „neuen aggressiveren Formen des militanten Kampfes“, die sich allerdings stets nur gegen Sachen, nie gegen Menschen richteten und von „eher symbolischen Kampfaktionen wie dem Einschlagen von Fenster“ bis zu „schwerwiegenden militanten Aktionen“ reichten. So begannen die Frauen, Briefkästen anzuzünden, Gottesdienste zu unterbrechen, Golfplätze von Parlamentariern unbespielbar zu machen, und deren unbewohnte Landsitze niederzubrennen. Für eine Brandstiftung im Theatre Royal erhielten Mrs. Leigh und Gladys Evans „die barbarische Strafe von fünf Jahren Gefängnis“. Ein anderes Mal stiegen einige Suffragetten auf Hausdächer und bewarfen den abfahrenden Zug des Premierministers mit Steinen, während Polizisten sie mit Feuerwehrschläuchen von den Dächern spritzten. Die Feuerwehrmänner selbst hatten sich geweigert, dies zu tun. So griff auch die Staatsmacht zu immer härteren Mitteln und stürmte etwa das „Hauptquartier“ der Suffragetten, wo die Polizisten den „gesamten Mitarbeiterstab“ festnahmen und die Druckerei ihrer Zeitschrift Votes for Women durchsuchten.

Doch berichtet Pankhurst nicht nur über den Kampf der Suffragetten in den Straßen und den Gefängnissen, sondern streut auch immer wieder politische und theoretische Überlegungen ein etwa über die ungleiche Behandlung der Geschlechter vor dem Gesetz. So zitiert sie eine Verteidigungsrede schon mal über die eine oder andere Seite hinweg. Auch schildert sie die parlamentarische Diskussion während der zweiten Lesung einer Gesetzesvorlage zum Frauenstimmrecht sehr ausführlich.

Solche Detailfreude ist nicht weiter verwunderlich, da bei der Publikation des Buches die beschriebenen Ereignisse zum Teil erst wenige Jahre, ja Monate zurücklagen. Denn die Chronistin beschreibt den Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht bis zur Drucklegung des Buches 1914, dem Jahr, in dem der Erste Weltkrieg ausbrach. Das ist selbstverständlich kein Zufall. Denn als die Herrschenden ihre Völker zu den Waffen riefen, haben nicht nur die Frauenrechtlerinnen auf dem Festland ihren Kampf für die Emanzipation der Frauen eingestellt, auch die englischen Suffragetten haben „für den Augenblick […] die Waffen niedergelegt“ und alle militanten Aktivitäten beendet. Sie wisse zwar nicht, wie der Krieg enden werde, doch sein Ergebnis werde „auf jeden Fall schrecklich sein in seinen Auswirkungen auf Frauen, die keine Stimme hatten, ihn abzuwenden“, prophezeite Pankhurst. 

Auf den letzten Seiten ihres Buches weist die Autorin daraufhin, dass sie nur den vorläufigen Bericht über einen Kampf schreiben konnte, an dem sie selbst teilnahm und der noch nicht zu Ende ausgefochten sei. Erst „wenn all die furchtbaren und verbrecherischen Diskriminierungen zwischen den Geschlechtern beseitigt sein werden“, werde es den künftigen HistorikerInnen möglich sein, sich „bequem zurück[zu]lehnen und in aller Ruhe über die merkwürdige Geschichte ein Urteil [zu] fällen, wie die Frauen von England gegen eine blinde und halsstarrige Regierung zu den Waffen griffen und sich den Zugang zur politischen Freiheit erkämpften“. Dieses zukünftige Buch werde sicher besser sein als ihr eigenes, „das nun einmal im Feldlager zwischen den Schlachten geschrieben wurde“.

Zwar haben die Frauen Englands 1928, dem Todesjahr Pankhursts, das Wahlrecht erhalten, auf das künftige Buch müssen wir jedoch auch heute noch warten. Denn die von Pankhurst herbeigesehnte Zeit ohne Sexismus und Geschlechterdiskriminierung ist noch immer nicht angebrochen. Wir aber können wie Pankhurst dazu beitragen, die Dauer bis dahin zu verkürzen.

Titelbild

Emmeline Pankhurst: Suffragette. Die Geschichte meines Lebens.
Übersetzt aus dem Englischen und mit Anmerkungen von Agnes S. Fabian und Helmut Roemer.
Steidl Verlag, Göttingen 2016.
343 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783958290501

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch