New Yorker Jeremiaden

John Dos Passos’ Roman „Manhattan Transfer“ liegt in einer Neuübersetzung vor

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

John Dos Passos’ New-York-Opus Manhattan Transfer (1925) gehört neben Andrej Belys Petersburg (1913), James Joyces Ulysses (1922) und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) zu den herausragenden Großstadtromanen der Moderne. Doch anders als bei diesen Werken ist die Stadt in Manhattan Transfer nicht allein ein Schauplatz der Handlung, sondern es ist eine urbane Maschinerie des industriellen Kapitalismus, in der die zahlreichen Figuren des Romans bloßes Material der gesellschaftlichen und historischen Prozesse in den Jahren zwischen 1900 und 1924 sind. Die Charaktere agieren im Roman kaum, werden von der Niederlage und der Verzweiflung überwältigt, ekeln sich vor einer abstoßenden Urbanität, die sich in unangenehmen Tönen und Gerüchen ausdrückt.

In immer wiederkehrenden Jeremiaden wird die Hässlichkeit der Stadt unter der Herrschaft des Industrialismus beklagt, während alle der abstrakten Obsession der Stadt mit dem Erfolg folgen oder vor ihr flüchten. Larmoyant merkt ein alter Mann an, die Stadt sei „nur für die Jungen und Starken“ oder ein Bourgeois schäumt: „Die Stadt wimmelt von Juden und irischem Abschaum“, um sich wenig später über die „Bande verdammter Ausländer“ zu echauffieren. Zwar bezeichnete Dos Passos später Manhattan Transfer als „Versuch, das Leben einer Stadt aufzuzeichnen“, doch bleibt der Roman zumeist im pessimistischen Miasma des Naturalismus gefangen, obgleich der Autor von der „kubistischen Barrikade“ den urbanen Raum in all seinen Schattierungen, Geschwindigkeiten, raschen Veränderungen und Dimensionen vom mächtigen Wolkenkratzer bis zur ratternden U-Bahn porträtieren wollte.

Als sich Leo Trotzki im Januar 1917 kurzzeitig in New York aufhielt, war er von „der märchenhaft prosaischen Stadt des kapitalistischen Automatismus“ begeistert, „wo in den Straßen die ästhetische Theorie des Kubismus und in den Herzen die sittliche Philosophie des Dollars“ herrschte. „New York imponiert mir, als der vollkommenste Ausdruck des Geistes der Gegenwartsepoche“, schwärmte der russische Emigrant. Dos Passos war dagegen vom agrarischen Demokratieideal Thomas Jeffersons geprägt und ein radikaler Kritiker des Industrialismus. Seit seinem Aufenthalt in Spanien 1917 betrachtete er dieses dezentralistisch und individualistisch geprägte Land als Gegenbild zum entfesselten US-Kapitalismus. Auch Pío Barojas Spanische Trilogie wurde für ihn zum Vorbild seiner eigenen USA-Trilogie (1930–1936). So sah er in der Metropole New York weniger als ein vielschichtiges Tableau der Möglichkeiten denn einen gefräßigen, zerstörerischen Moloch und beschwor in apokalyptischen Passagen den Verfall und Untergang in Analogie zu Babylon und Ninive.

Ursprünglich war der Roman als die Geschichte Ellen Thatchers geplant, die – aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommend – durch verschiedene Beziehungen in der Theater- und Medienszene New Yorks reüssierte und ihren gesellschaftlichen Aufstieg mit der Heirat des karrieristischen Anwaltes George Baldwin besiegelt. Kontrastiert sollte dies mit dem allmählichen Abstieg des Journalisten Jimmy Herf werden, der autobiografische Züge Dos Passos‘ trägt und am Ende die Stadt verlässt. Diese Grundidee verband der Autor mit filmischen Techniken, der Montage von Detail- und Panoramaeinstellungen, Groß- und Nahaufnahmen, der Verwebung von Zeitungstexten, populären Liedern und Großstadtgeräuschen. Er gab vor, lediglich als Aufzeichnungsinstrument zu agieren und sich jeglicher Wertung zu entziehen, diverse Figuren und Stimmen mit zahllosen Positionen aus den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Spektren in einem chronologischen Reigen zu präsentieren, aus dem der Leser selbst seine Schlüsse ziehen solle. Zeitgenössische Kritiker wie  Edmund Wilson monierten jedoch, dass Dos Passos die Kranken mit der Krankheit verurteile; selbst wenn er versuche, einzelne Charaktere sympathisch erscheinen zu lassen, setze er sie noch herab. In Alfred Kazins Augen kaschierte Dos Passos mit der flackerhaften Technik lediglich die eigene Konfusion und die fehlende gesellschaftliche Analyse, die er später in der USA-Trilogie lieferte. In diesem „mittelmäßigen, schwach geschriebenen Buch“ werde, so konstatierte Kazin in seinem Standardwerk On Native Grounds (1942), die Stadt in einer Monstrosität aufgesogen.

Tatsächlich demonstriert Dos Passos ein „versiertes up to date-Sein“ (wie Theodor W. Adorno es nannte), doch fehlt dem Roman zum einen die selbstkritische Reflexion dessen, was er kritisiert; zum anderen webt er am „Schleier der Personalisierung“, den er in simplifizierender Weise über die ökonomische Architektur der Herrschaft legt. Immer wieder kontrastiert er Arm und Reich in personalisierter Form: Auf der einen Seite stehen die einzelnen und vereinzelten Hungerleider, Tramps und Proleten; auf der anderen die fetten Kapitalisten, die feisten Bankiers und die korrupten Politiker, während der Roman keine Form findet, um die gesellschaftlichen Widersprüche inhaltlich darzustellen. Vieles geht in der Aneinanderreihung von Situationen über die bloße Zurschaustellung oder Behauptung nicht hinaus: Jimmy Herf wird als Rebell gegen die herrschenden Zustände vorgeführt, doch bleibt seine Renitenz kontur- und substanzlos. Zwar wird er als „Bolschewist“ und Wobbly (als Mitglied der syndikalistischen Gewerkschaft Industrial Workers oft the World) bezeichnet, dennoch verharrt er bis zum bitteren Ende in der Mühle des von ihm verachteten Systems. Ähnlich oberflächlich bleibt die Kritik der Massenkultur und der kommerziellen Presse, da sie nie in die Tiefe der gesellschaftlichen Prozesse vordringt, sondern sich in plakativen Statements erschöpft. Stattdessen werden die Figuren als willfährige Opfer einer verführerischen Presse oder Reklameindustrie vorgeführt.

Indem sich Dos Passos auf die Position des Chronisten zurückzieht, reproduziert er die vorherrschenden Vorurteile der New Yorker Gesellschaft. Nicht allein in den Dialogen, sondern  auch in den narrativen Passagen finden sich rassistische, antisemitische und homophobe Stereotypen, Ausdrücke wie „Nigger“ oder „Judenjunge mit der langen Nase“, Beschreibungen von Homosexuellen als psychisch Kranke, die ihre „Krankheit“ mittels einer psychoanalytischen Behandlung kurieren, um nicht länger als „Gottes Fehler“ gelten zu müssen. Ungeachtet seiner Kritik an den herrschenden Zuständen in New York und den USA blieb der Autor – wie Michael Denning in seiner großen Studie The Cultural Front (1997) mit Recht bemerkte – dem „Land der weißen Männer“ verpflichtet.

In Manhattan Transfer ist der Erfolg weiblich konnotiert; Ellen Thatcher und andere weibliche Charaktere organisieren ihren Aufstieg im urbanen Terrain über die sexualisierte Ergatterung des zirkulierenden Mehrwerts, während soziale Absteiger wie Jimmy Herf ins Abseits geschoben werden, was der abgehalfterte Journalist larmoyant mit dem Satz „Frauen sind wie Ratten – sie verlassen ein sinkendes Schiff“ kommentiert. Das künstlerische Dilemma von Manhattan Transfer liegt vor allem in dieser Figur, mit der sich Dos Passos selbst zum teilnehmenden Akteur machte, während er zugleich die Rolle des Chronisten übernahm und in dieser klassischen Vermengung von Verantwortlichkeiten das Gelingen des Projekts torpedierte. Oder mit den Worten eines späteren Schriftstellerkollegen: „Confusion hath fuck his masterpiece.“ Tatsächlich outete sich Dos Passos 1934 – auch wenn er das Bekenntnis selbstironisch verpackte – in einem Brief an Edmund Wilson als „angelsächsischer Chauvinist“, bekannte gegenüber dem Dramatiker John Howard Lawson, dass die rebellische Mentalität New Yorks ein jüdischer europäischer Import sei oder bezeichnete in einem Brief an Robert Cantwell Kubaner als „Läuse“.

Die nun von Dirk van Gunsteren verantwortete Neuübersetzung glättet die „Sprache des weißen Mannes“ nicht. In der 1927 bei S. Fischer erschienenen Erstübersetzung Paul Baudischs hatte die „Eindeutschung“ stereotyper oder rassistisch denotierter physiognomischer Begriffe noch einen extremeren Klang. In einem Interview thematisiert van Gunsteren jedoch nicht die teilweise rassistische Sprache, sondern hält der Übersetzung Baudischs (der in den 1930er-Jahren nach Österreich, Frankreich und Schweden ins Exil ging) einen altväterlichen Duktus vor, „der diese Übersetzung so furchtbar verstaubt wirken lässt und einem Werk dieses Ranges nicht angemessen ist“. Für ihn ist Dos Passos’ Sprache „überaus modern“, wenn nicht gar „geradezu zeitgenössisch“ (was immer dies heißen soll). Während er Baudisch lexikalische Fehler und Irrtümer vorhält, findet er keine adäquate Übersetzung für Begriffe wie „upstate“, „downtown“ oder „uptown“; das „center of things“ wird in seiner Übersetzung zum „wo was los ist“, und der Akzent deutscher Immigranten geht in der Übertragung gänzlich verloren, womit sich Walter Boehlichs Diktum „Übersetzen ist unmöglich“ aufs Neue bewahrheitet.

Da industrielle Unternehmen kein Produkt ohne Marketing auf die Konsumenten loslassen, hat auch Rowohlt für diese Neuübersetzung einen Autor mit aktuellem Marktwert beauftragt, das Publikum mit Plattitüden aus dem Fundus des „Außenseitertums der Eingeweihten“ (wie Adorno diese scheinbar kultivierte Kollaboration mit den Erfordernissen des Marktes nannte) heimzusuchen. Was Penguin Books in den 1980er-Jahren bei der Republikation von Manhattan Transfer mit Jay McInerney vollzog, ahmt Rowohlt nun mit Clemens Meyer nach. Zwar erfüllt dessen Nachwort „Dos Passos und die Wild Bunch oder Die Erfindung der Moderne“ ob seiner intellektuellen Dürftigkeit bestenfalls den Tatbestand der persönlichen Beleidigung des Lesers, doch ist dies von peripherer Bedeutung, da es nicht um Literatur, sondern um Verkauf geht. So bemüht Herr Meyer allein auf der ersten Seite seines „Nachwortes“ siebenmal das Wort „Ich“, ohne dass er die Unverschämtheit seines narzisstischen Exhibitionismus bemerkt. In den New Masses lobte Michael Gold 1926 Dos Passos’ Stadtroman als „barbarisches Poem New Yorks“, dessen zentraler Protagonist – Jimmy Herf – „vom amerikanischen Kommerz gequält“ sei. In der deutschen Übertragung leben andere Quälgeister fort.

 

Titelbild

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Dirk Van Gunsteren.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
539 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498050467

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch