Literarische Kultur und Öffentlichkeit Mitte des 19. Jahrhunderts

Ein von Katja Mellmann und Jesko Reiling herausgegebener Sammelband liefert Beiträge zur Presse, Marktorganisation, Volksschriftstellerei und zu soziokulturellen Tendenzen mit neuer Perspektivierung

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 19. Jahrhundert ist nicht nur politisch und sozioökonomisch von großer Dynamik geprägt gewesen. Wenngleich die Forschung der vergangenen Jahrzehnte vor allem für das ausgehende 19. Jahrhundert eine Vielzahl an kulturellen Differenzierungsprozessen herausgearbeitet hat, wurde die Zeit der Jahrhundertmitte bisweilen unter dem Eindruck biedermeierlicher Stagnation beleuchtet beziehungsweise mit einer retrospektiven Erwartungshaltung analysiert. Die literarische Kultur des mittleren 19. Jahrhunderts ist jedoch – so die These der beiden Herausgeber des Sammelbandes Literarische Kultur und Öffentlichkeit im mittleren 19. Jahrhundert, Katja Mellmann und Jesko Reiling, – eine Zeit gewesen, die sich deutlich von dem unterscheidet, was sich dann um 1900 als Trend beziehungsweise als Maßstab literarischen Schreibens und Arbeitens etabliert hat. Zugleich gelte es, jenseits des kanonischen Spektrums realistischer Erzählliteratur die „epochale ‚Andersartigkeit‘“ der Zeit zwischen 1840 und 1880 herauszuarbeiten: „Die hier versuchte Antwort ist, dass sich im Vormärz, hervorgehend aus der frühneuzeitlichen Gelehrtenkommunikation in Zeitschriften, eine neue Form ‚litterarischer‘ Kommunikation etabliert, die, da sie auch belletristische Formen umfasst, tendenziell in Konkurrenz zu kunstliterarischen Kommunikationsformen gerät“. Diskontinuität, Populärkünste, Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems sowie der Öffentlichkeit, ferner Tendenzhaftigkeit der Literatur sind die erkenntnisprägenden Leitbegriffe der gut elaborierten und auf begriffliche Klärung abzielenden Einführung der beiden Herausgeber.

Der Band fokussiert (in etwa gleichgewichtend) fünf thematische Zugänge: periodische Presse, Publikationsstrategien und Marktorganisation, „Volksschriftstellerei“, Geschichts- und Wissenschaftsdiskurse sowie religiöse und sozialpolitische Tendenz. Im Zentrum der insgesamt 17 Beiträge von 20 Autorinnen und Autoren steht jeweils eine spezifische „Konstellation“ des literarischen Lebens. Damit knüpft der Sammelband an etablierte Formen der Konstellationsforschung an. Ihm liegt eine Tagung an der Universität Göttingen im Jahre 2014 zugrunde, wobei die narrativen Gattungen die Darstellung dominieren. Die lobenswerte Intention wird einführend transparent gemacht, da es darum gehe, „einzelne charakteristische Strukturen näher zu beleuchten, die bislang eher unterforscht, wenn nicht gar praktisch vergessen sind.“

Die Beiträge schildern im Einzelnen relevante Teilaspekte und gehen auf bislang kaum beachtete Fragestellungen und Materialien ein. Dabei nähern sie sich dem Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Im ersten Abschnitt untersuchen mehrere Beiträge die printmediale Landschaft des 19. Jahrhunderts: Es finden sich instruktive Texte zur Darstellung des Eleganz-Diskurses im Vormärz am Beispiel der Leipziger „Zeitung für die elegante Welt“ und ihrer Nachfolger in Mitteleuropa, zur Untersuchung von Feuilleton und Essay als funktionsbestimmte beziehungsweise wissensvermittelnde Textsorten im Kontext der Etablierung des Rundschau-Modells, ferner zur Frage nach dem Verhältnis von Text und Bild in illustrierten Zeitschriften wie „Europa“ und „Pfennig-Magazin“. Der Beitrag von Alice Hipp widmet sich der quantitativen Analyse des Verhältnisses weiblicher und männlicher Autorenschaft in den repräsentativen Zeitschriften „Gartenlaube“, „Westermanns Monatshefte“ und „Deutsche Rundschau“. Das bemerkenswerte Ergebnis der Analyse zeigt, dass Frauen selten unter Pseudonym publiziert haben und von einem guten Viertel bis zu einem Drittel weibliche Autorschaft ausgegangen werden konnte: „Schreibende Frauen sind in der literarischen Öffentlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts folglich fest etabliert und stark präsent.“

Die zweite Sektion nimmt den literarischen Markt und die Publikationsstrategien in den Blick. Der Buchmarkt weist einige Besonderheiten auf, nach 1867 kommt es zu einem Trend von als Einzelwerken verkäuflichen Reihen, wohingegen zuvor das Prinzip der Subskription dominierte. Speziell für die weibliche Jugend entwickelte sich durch Adaptionen von Jane Eyre und der Romane E. Marlitts eine eigene narrative Form, die durchaus zeitgenössischer Kritik ausgesetzt gewesen ist. Christine Haug untersucht in ihrem Beitrag den Typus des multimedialen Schriftstellers, der durch die Mehrfachverwertung als Zeitschriftendruck, Buchausgabe und Bühnenadaption eine Wertschöpfungskette etablierte.

Wesentlich für den Sammelband ist die nähere Betrachtung der Volksschriftstellerei. Aspekte wie die Abkehr von der Elite- und Genieorientierung, der Hinwendung zum Massenpublikum durch die Volksliteratur, besonders die Dorf- und Bauernliteratur, werden eingehend analysiert und hinsichtlich ihrer diversen Spezifika beleuchtet. Darüber hinaus fokussiert eine Detailstudie die Kritik des bürgerlichen Realismus an Berthold Auerbachs Dorfgeschichten. Besonders der Beitrag von Reinhard Siegert zur „Aufklärung im 19. Jahrhundert“ zeigt, dass Literatur und Politik eng verbunden sind: An den volksaufklärerischen Texten des Zeitraums von 1841 bis 1860 kann er dokumentieren, „wie die Mitarbeit aufklärerischer Patrioten, die sich als Privatleute für die Reform des Gemeinwesens engagierten, übergeht in politischen Liberalismus mit beinharten politischen Forderungen gegenüber restaurativen Regierungen“.

Die beiden letzten thematischen Blöcke sind der literarischen Öffentlichkeit im engeren Sinne als interdiskursivem Phänomen gewidmet. Einerseits werden diverse Aspekte des Geschichts- und Wissenschaftsdiskurses in Form von Spezialstudien betrachtet (unter anderem am Beispiel von Erinnerungslyrik und Abenteuerromanen), anderseits geht es um relevante religions- und sozialpolitische Tendenzen, unter anderem am Beispiel des Regensburger Marien-Kalenders oder der jüdischen Unterhaltungspresse. Zu weiteren Diskussionen wird sicherlich die Anknüpfung an Olaf Blaschkes These vom „zweiten konfessionellen Zeitalter“ seit dem Vormärz führen, wie sie besonders Silvia Tschopp vornimmt. Sie zeigt eine „Blüte der katholischen Massenpresse“ im Betrachtungszeitraum, etwa durch Kalenderpublizistik und Familienzeitschriften (beispielsweise der Gründung des „Deutschen Hausschatzes“) und schließt mit dem diskussionswürdigen Fazit, wonach „jene Synthese von Konservatismus und ökonomisch motivierter Modernität […] zu den bemerkenswertesten Befunden der Analyse des katholischen Pressewesens im mittleren 19. Jahrhundert zählt.“

Der Sammelband belegt eindrucksvoll den Erkenntniswert einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft, die eine primär ästhetisch fokussierte Literaturgeschichtsschreibung, die sich der „Höhenkamm“-Forschung verschrieben hat, um wesentliche Perspektiven ergänzt: Die Koexistenz von alten und neuen Literaturauffassungen machen das 19. Jahrhundert auch performativ wie sozialgeschichtlich zu einem lohnenden Forschungsobjekt. Durch ein umfangreiches Register für Periodika und Personen wird ein schneller Zugriff auf die durchweg lesenswerten Studien erleichtert. Der Band ist vorrangig deshalb wichtig, weil er in einer konzisen Darstellung der Forschungsperspektiven und gestützt auf vielfältige Primär- und Sekundärliteratur die Mitte des 19. Jahrhunderts in eine neue Perspektive rückt und dabei Fragen evoziert, die sowohl in der Kultur- und Medienwissenschaft im Allgemeinen als auch der Germanistik im Speziellen über den Band hinaus Wirkung haben werden.

Titelbild

Katja Mellmann / Jesko Reiling (Hg.): Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885.
De Gruyter, Berlin 2016.
455 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783110474510

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