Mit ‚reformatorischer Emphase‘ auf ins Mittelalter!

Ein von Günter Frank und Volker Leppin herausgegebener Band zeigt Überkommenes in anderem Lichte und verweist auf unerwartet Neues

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das anstehende Reformationsjubliäum hat bereits im Vorfeld eine ganze Reihe von Veröffentlichungen nach sich gezogen oder vielmehr Anlass zu ihrer Publikation gegeben. Nicht alles, was bislang erschienen ist, ist wirklich absolut unabdingbar und damit für ein wohlsortiertes Bücherregal vorbehaltlos empfehlenswert, die vorliegende Publikation jedoch gehört in diese Kategorie.

Wie der Vorrede der Herausgeber zu entnehmen ist, die sich auf eine „allgemeine Wahrnehmung“ berufen, „hatten die Reformatoren und der werdende Protestantismus radikal mit dem Mittelalter gebrochen.“ Dieser ‚weit verbreiteten These‘ stellen die 19 Aufsätze in dem Sammelband „Die Reformation und ihr Mittelalter“, Ergebnis einer gleichnamigen Tagung in Bretten vom 10. bis 12. Oktober 2013, das Modell einer zwar mitunter gebrochenen, gleichwohl vorhandenen Kontinuität entgegen, ohne die die Phänomene der Reformation in vieler Hinsicht kaum erklärbar wären. Nun ließe sich einwenden, dass etwa die Bezugnahme Luthers auf Johannes Tauler durchaus bekannt ist – allerdings eben nicht in der ‚allgemeinen Wahrnehmung‘. Hier Klarheit(en) zu schaffen, aber auch wirkliches Neuland zu betreten ist das Anliegen der beiden Herausgeber und natürlich der Beitragenden.

Wichtig ist auch, dass gewissermaßen beide konfessionellen Seiten – von ‚Lagern‘ zu sprechen wäre in diesem Zusammenhang deutlich unangemessen – vertreten sind. Und so passt der erste Beitrag in dieses Schema des Überraschenden auf dem Fundamentum des scheinbar Vertrauten: Jorge Uscatescu Barrón wirft einen Blick auf „Domingo de Sotos Auseinandersetzung mit der protestantischen Theologie“ und weist anhand entsprechender Quellen nach, dass diese über den Habitus der bloßen Polemik hinausging. Einen interessanten Akzent auf die Frühphase der Reformation setzt Augustinus Sander („Die konfessorische Katholizität Georgs von Anhalt“), der eben verdeutlicht, dass vor der endgültigen Formierung einer neuen Kirche durchaus die Möglichkeit der Einbindung des deutschen Protestantismus in die katholische Kirche bestanden hatte. Ein wichtiger Hinweis in diesem Text scheint mir darin zu liegen, dass diese Idee historisch zwar überholt, theologisch jedoch noch keineswegs obsolet sei, womit Sander eine frühe Form der seinerzeit natürlich so nicht genannten Ökumene erkennt – und damit Anknüpfungen an die Gegenwart vorstellbar macht. Weniger apodiktisch beschäftigt sich Matthias Pohling unter dem Titel „Des Pabstes eigene Scribenten“ mit Luthers historiographischen Praktiken und entsprechender Intertextualität.

In gegenüber den einleitenden Beiträgen ‚umgekehrter‘ Ausrichtung untersuchen Arno Mentzel-Reuters („Reformatoren drucken das Mittelalter“) Luthers ‚Theologia deutsch‘ und Melanchthons Lampert von Hersfeld-Rezeption, während Volker Leppin „Luthers Blick auf das Mittelalter“ auf anregende Weise in den Fokus stellt. Beide Beiträge nehmen die reformatorische Perspektive auf, wobei Leppin eine eher auf der Metaebene angesiedelte Sicht wiedergibt, während Mentzel-Reuters sich konkret auf zwei ausgewählte Quellentexte stützt.

Thematisieren die bislang angeführten Beiträge zumindest im weitesten Sinne mehr oder minder unmittelbar konkrete Geschehnisse während der reformatorischen Bewegung, schließen sich grundsätzliche Erörterungen an. Günter Frank („Die ‚articuli fidei‘ als Grund des Glaubens und der Theologie“), Theodor Dieter („Martin Luthers kritische Wahrnehmung ‚der‘ Scholastik in seiner so genannten ‚Disputatio contra scholasticam theologiam‘“) sowie Johanna Rahner („Crux/Crucifixus sola/solus est nostra Theologia?“) vertiefen hingegen eher grundsätzliche Bereiche, die zwar selbstverständlich ihren direkten Bezug zur reformatorischen Theologie aufweisen, aber fundamentaler die Kontinuität mittelalterlicher Theologie in die Frühe Neuzeit hinein thematisieren.

Dem Widerspruch zwischen offener Inspiration und strukturierter Institution, oder anders ausgedrückt die grundsätzliche Problematik, reformatorische und revolutionäre Veränderungen zu institutionalisieren, widmet sich Jan-Hendryk de Boer in seinem lesenswerten und mit knapp fünfzig Seiten auch sehr umfangreichen Beitrag „Aus Konflikten lernen – Der Verlauf gelehrter Kontroversen im Spätmittelalter und ihr Nutzen für die Reformation“. Dabei wird der Bogen von der Verurteilung des Johannes Rucherath von Wesel über die allgemeine und reformationsbezogene Häresie-Problematik bis zur Institution der neuen Kirche gespannt. Vermittelt der Titel des Aufsatzes noch einen gewissen positiven Ansatz, gilt dies für das ernüchternde Fazit nicht mehr, denn der ‚Lernerfolg‘ erweist sich doch als fragwürdig: „Die Reformation sollte – durchaus in Übernahme von erfolgreichen Strategien ihrer altgläubigen Gegner – ihre eigenen Wege finden, durch die Institutionalisierung von Zensurmaßnahmen Aussagemöglichkeiten zu beschränken und so die Offenheiten einzuhegen, die ihr struktureller Ermöglichungsgrund gewesen waren.“

In den folgenden Beiträgen – Henrijk Wels, „Nicolaus Taurellus oder die Geburt der Gleichheit aus dem Geist der Erbsünde“ und Ueli Zahnd, „Lambert Daneau kommentiert Petrus Lombardus“ – Eine reformatorischen Auseinandersetzung mit einem Basistext mittelalterlicher Scholastik – ist der Fokus wieder auf bestimmte Textquellen gerichtet. Eine ganze Quellengattung, Grabdenkmäler, nimmt Tarald Rasmussen („Die Kontinuität der Memoria – Überlegungen am Beispiel von sächsischen Grabdenkmälern“) in den Blick. Wenn Bernd Roling die „Geburtswehen der mittellateinischen Philologie“ unter Bezugnahme auf den im 18. Jahrhundert wirkenden Polycarp Leyser IV. untersucht, und damit im Kontext der Wissenschaftsgeschichte arbeitet, führt Andreas Odenthal mit einer Untersuchung zur „Stundenliturgie in den Klöstern Württembergs nach Einführung der Reformation“ in das Feld kirchlicher Liturgie nach dem reformatorischen Umschwung ein. Thematisch eher mit Rolings Beitrag verbunden ist der Aufsatz Martina Hartmanns, die sich dem Thema „Der wichtigste karolingische Autor im ‚Catalogus testium veritatis‘ des Matthias Flacius Illyricus“ widmet. Dabei weist sie nach, dass ein Kreis um Matthias Flacius Illyricus zwar am Anfang einer wissenschaftlichen Rezeption des Mittelalters steht, sich dabei aber durchaus auch parteiisch verhielt, was Auswahl und Interpretation der Quellen angeht. Demgemäß konstatiert Hartmann: „Die Reformation schuf sich ihr eigenes Mittelalter.“

Ausgesprochen systemtheoretisch – und nach den einleitenden Worten des Verfassers auch während der Tagung in Bretten höchst umstritten – ist der Beitrag Günther Menschings „Die Reformation und die nominalistische Wende“. Mensching sieht im 16. Jahrhundert einen systemisch bedingten Überbau als gegeben an, der sich in der politisch-gesellschaftlichen Gestaltung des konfessionellen Zeitalters auswirkte. Der Konnex ins Mittelalter liegt in der Person und im Werk Wilhelms von Ockham, das als Matrix für die Vorgänge nach 1517 herangezogen wird. Damit ist in gewissem Sinne ein eher allgemeiner, theoretischer Themenkomplex erreicht, das durch Antoine Vos („Gedankenmuster der Reformation im mittelalterlichen Licht“) und Ulrich Muhlack („Die Renaissance als Beginn der Neuzeit – Mit einem Seitenblick auf die Reformation“) ergänzt wird. Dabei wird mitunter auch die Frühe Neuzeit verlassen, ohne dass der gewählte Bezug verlorenginge. Mit Risto Saarinens Retrospektive auf die Gerhard Ebelings Lutherdeutung allerdings, die den Band beschließt, scheint mir die ‚Reformation und ihr Mittelalter‘ wirklich etwas zu weit gefasst. Damit soll die Qualität des Beitrags keineswegs geschmälert sein, aber er passt nicht wirklich in den Kontext des Tagungsbandes, auch wenn dieser sehr breit ausfällt.

Abschließend noch einige zusammenfassende Worte: Die vorliegende Publikation ist, wie bereits eingangs angedeutet, äußerst lesenswert, da sie auch für diejenigen, die sich im Umfeld der Reformationsgeschichte tummeln, durchaus Neues bereithält. Die Verortung der Beitragenden sorgt dabei auch für eine über- beziehungsweise transkonfessionelle Warte, was zwar in der heutigen Zeit eigentlich selbstverständlich sein sollte, es jedoch keineswegs immer ist. Sowohl in der Breite als auch in der Tiefe, das heißt im engeren textrezeptionsbezogenen wie aber auch aus dem Blickwinkel ‚reiner‘ Kirchengeschichte periphereren Bereichen wie der Tradition von Grabdenkmälern, wissenschaftshistorischen Erörterungen oder Bibliothekskatalogen werden auf produktive Weise Perspektiven ausgewiesen, die zur Vertiefung und weiteren Diskussion – etwa auch hinsichtlich der allgemeineren Mittelalterrezeption in der Frühen Neuzeit – einladen. Gerade diese Breite macht den Band so bemerkenswert, ist doch besonders in jüngerer Zeit zu beobachten, dass Kongresse und Tagungen thematisch von einer unverkennbaren Selbstreferentialität gekennzeichnet sind, wobei Detailwissen zwar definitiv erweitert wird, der Gesamtblick jedoch oft verlorengeht.

Natürlich ist daher vorliegender Sammelband nicht ‚am Stück‘ zu lesen; gerade seiner Diversität wegen wird das Buch mit Sicherheit aber immer wieder in die Hand genommen werden, einen länger anhaltenden Reiz zu entfalten vermögen – und damit abseits jeglicher Formulierungsmode ‚nachhaltig‘ sein.

Auch wenn dergleichen im Zeitalter von ‚E-Books‘ und ‚Downloads‘ zumindest ein Stück weit verlorengegangen ist, das Lesen von Büchern hat einen eigenen Charme, der durchaus über die bloße Informationsvermittlung hinausgeht. Dies gilt auch für „Die Reformation und ihr Mittelalter“, denn von der Haptik her ist das Buch angenehm und vermag damit – so zumindest meine subjektive Meinung – bereits beim In-die-Hand-Nehmen eine anregende Atmosphäre zu generieren, was auch ein Wert an sich ist. Zugegebenermaßen ist es nicht unbedingt ein ‚Schnäppchen‘, gleichwohl lohnt sich, so möchte ich meinen, die Anschaffung nicht nur, aber insbesondere für diejenigen, die sich intensiver mit (geistes-)geschichtlichen Phänomenen um das Jahr 1500 befassen wollen oder müssen, ihnen sei das Buch wärmstens empfohlen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Günter Frank / Volker Leppin (Hg.): Die Reformation und ihr Mittelalter.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2015.
478 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783772826900

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