Rückenmark versus Großhirnrinde
Nach mehr als einem Jahrhundert seit Erscheinen der Erstausgabe wurde Ilse Frapans Roman „Die Betrogenen“ endlich neu herausgegeben
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Jahr 1953 brachte ein seit einem halben Jahrhundert berühmter und im Laufe der Zeit recht gealterter Schriftsteller namens Thomas Mann seine – zumal in der literaturwissenschaftlichen Genderforschung – nicht unumstrittene Novelle Die Betrogene auf den Markt. Die an Gebärmutterkrebs erkrankte Protagonistin jenseits des Klimakteriums glaubt angesichts einer einsetzenden Blutung hocherfreut, an ihr habe sich ein „Fruchtbarkeitswunder“ vollzogen.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war ein Buch mit dem zum Verwechseln ähnlichen Titel Die Betrogenen erschienenen. Verfasst hat es Manns weitaus unbekanntere Kollegin Ilse Frapan, deren feministischer Roman Wir Frauen haben kein Vaterland aus dem Jahr 1899, anders als ihr hier anzuzeigendes, da kürzlich neu herausgegebenes Werk, leider noch immer einer Neuausgabe harrt. Im Unterschied zu Manns Roman handelt Die Betrogenen nicht von einer bereits etwas älteren Dame, sondern vielmehr von einer ganzen Clique junger Leute, die im ‚Zeitalter der Nervosität‘ an der Universität zu Zürich Medizin studieren. Alle – oder doch fast alle – frohen Mutes und – wie sie meinen – freien Geistes, wobei manche sozialistische Flausen in dem einen oder anderen Kopf herumspuken. Keineswegs jedoch in allen.
Nun werden sie zwar ein jeder und eine jede mit mehr als nur ein paar Pinselstrichen gezeichnet und jedem Charakter wird mit seinen jeweiligen Hoffnungen, Problemen und Enttäuschungen eine gewisse Tiefe verliehen. Auch erhalten sie je ihre eigene und – soviel sei verraten – stets ernüchternde, ja tragische und einmal gar tödlich endende Geschichte. Doch im Zentrum des internationalen Völkchens mittel- und osteuropäischer Studierender – wie auch in dem der Handlung – stehen die KommilitonInnen Sybille Bauer und Rudolf Mohl respektive ihr Liebesverhältnis, wobei sich die Erzählinstanz über den Vornamen der Protagonistin nicht ganz einig zu sein scheint, wird sie doch zunächst – ebenso wie im Nachwort der Herausgeberin Karin Teborg – Sybilla, später aber durchgehend Sybille genannt.
Der Roman ist nicht nur weithin aus der Sicht Rudolfs erzählt, er bildet auch den eigentlichen Mittelpunkt vielleicht nicht so sehr des Geschehens, aber doch des Interesses. Bevor er sich in der Schweizer Hauptstadt der Medizin verschrieb, studierte er zwei Semester „Jus“ in Berlin und „in Heidelberg jede Menge Philosophie“. So erscheint er zu Beginn – zumindest den Lesenden – seiner selbst nicht ganz gewiss, wenn nicht gar etwas flatterhaft. Dabei macht sich die Erzählinstanz ein wenig über die fragwürdige Seriosität seiner Studien lustig, wie die eben zitierte Formulierung erkennen lässt. Überhaupt lugt bei seinem Blick auf sich selbst öfter einmal der milde Spott der Erzählinstanz zwischen den Zeilen hervor. So sieht er sich als „Psycholog und Phantasiemensch“, der nur eine „Triebfeder“ habe: „unbegrenzte Neugier“. Die aber findet ihre Grenze genau dann, wenn es gilt, dem delphischen Rat zu folgen. Dabei rühmt er sich, Anhänger Friedrich Nietzsches zu sein, und sehnt als solcher „die Herrschaft der Kraftmenschen, die Regierung der Herrenmenschen, die an keine Satzung sich binden“, herbei, zu denen er sich selbstverständlich selbst rechnet. Doch wie sein philosophierendes Vorbild erweist er sich als „ängstlicher Adler“, um ein Wort des Nietzsche-Biografen Werner Ross aufzugreifen.
So wirken Rudolfs Selbstwahrnehmung und seine Ansichten öfter einmal unfreiwillig komisch. Etwa, wenn er sinniert: „wer weiß ob ich je zum Handeln komme! Ja, wenn ich dazu käme – dann würdʼ ich brutal sein! Aber man hat ja keinen Arm frei, man rennt ja sofort mit dem Strafgesetzbuch aneinander“. Die Autorin des kleinen Romans aber hat diese Komik sehr wohl intendiert. So entlarvt sich der ‚Kraftmensch‘ als bloß bramarbasierender Schwadroneur – und erweist sich in dieser Hinsicht tatsächlich als getreuer Adept seines Mentors Nietzsche. Selbstverständlich ist der ‚Herrenmensch‘ mit dem steten „spöttisch bedeutsamen“ Lächeln ein ausgemachter Rassist (was ihn im Übrigen von seinem Idol Nietzsche unterscheidet) und Sexist (was ihn wiederum mit diesem verbindet). Russinnen gelten ihm etwa als „Menschen der geraden plumpen Instinkte“. Als Rassist und Sexist steht er in der studentischen Runde allerdings keineswegs alleine. So gibt es in der Clique beispielsweise auch einen „empfindlichen Polen“, „der die Deutschen ohnehin kaum zu den Menschen rechnete“. Während eines Wirtshausabends wiederum spielt die studentische Herrenrunde um Rudolf zumindest mit dem Gedanken, um eine ihrer Kommilitoninnen zu würfeln. Ob sie es denn tatsächlich auch tun, wird nicht ganz deutlich.
Gelegentlich weicht die Erzählinstanz einmal von Rudolfs Seite und blickt Sybille für einige Seiten über die Schulter und ins Herz. So sind die Lesenden etwa nicht nur darüber im Bilde, wie Rudolf über sie denkt, sondern auch umgekehrt, wie sie ihn und ihr beider Verhältnis wahrnimmt. Während Sibylles „düstere Schönheit“ dem männlich-taxierenden Blick Rudolfs als „stattlich und schön und vollständig entwickelt“ erscheint und ihre „großen blassen Züge unter dem kurzlockigen blauschwarzen Haar“ sein erotisiertes Interesse wecken, da er „nie solch eine marmorne Ruhe in einem Mädchenantlitz gefunden“ hatte, findet sie den Österreicher mit dem „blassen, blasierten Gesicht“ nicht sonderlich „hübsch“; „interessant schon eher“ – vor allem die „weichen verschleierten Tönen“ seiner Kärntner Stimme.
Wenngleich die Erzählinstanz des Öfteren die Perspektive Sybilles einnimmt, ist das Geschehen doch überwiegend aus der Sicht Rudolfs geschildert, dessen tiefstes Inneres dabei zugleich offenbar wird. So führt die Erzählinstanz die Lesenden etwa in die Einsamkeit seines Zimmers, wo er seiner geheimsten und intimsten, dabei nicht sonderlich sympathischen Tätigkeit nachzugehen pflegt. Auch an seinen Reflexionen nach einem ersten gemeinsamen Spaziergang mit Sybille, der die beiden Freigeister unbewusst zu Standesamt und Kirche führt, dürfen die Lesenden teilnehmen. Einmal mehr erscheint er nicht in bestem Licht. Wieder zu Hause, setzt er sich sogleich an seinen Schreibtisch, zieht ein Notizbuch mit dem Titel „Praktische Psychologie“ (an anderer Stelle nennt er es seine „experimentelle Psychologie“) aus einer Schatulle hervor, in der er es verborgen und verschlossen hält. Seit einigen Wochen verfertigt er in ihm psychologische Portraits seiner Bekanntschaften und Liebschaften. Etliche Frauen hat er in den kaum zwei Monaten bereits auf diese Art verewigt, unter ihnen „Schauspielerinnen, Chansonettensängerinnen, dann […] Kellnerinnen, Wirtshaustöchter aus Sommerfrischen“. Nun freut er sich, mit Sybille einen „neuen, noch unverbrauchten Typus“ hinzufügen zu können, und „lächelt boshaft“ bei diesem Gedanken. Denn jetzt hatte er die selbstbewusste, kluge und beeindruckende Frau „hier auf dem Tisch, unter seinem haarscharfen Seziermesser, und sie mußte ihm stillhalten“. Dabei reagiert er selbst später einmal äußerst ungehalten, als sie ihm erzählt, jemand halte ihn für psychopathologisch, und fragt, ob es solche Krankheitsfälle in seiner Familie gebe, schließlich, so meint sie, studierten sie beide Medizin, da müsse ihn das doch auch interessieren. Doch er wehrt entrüstet ab: Er „danke dafür, das Objekt für Eure medizinischen Diskussionen herzugeben“.
Doch zurück zu Rudolfs Schreibtisch und seinem Notizbüchlein. Tatsächlich ist er nach dem Spaziergang keineswegs in der Lage, Sybilles Psyche in seinen Aufzeichnungen so haarfein zu sezieren, wie er das gerne hätte. Nicht einmal über sich selbst und seine Gefühle ist er sich hier, zu Beginn ihrer sich anbahnenden Romanze, im Klaren. „Entweder sehr leicht oder absolut unmöglich“, murmelt er über seine psychologischen Notizen gebeugt „vor sich hin“, ohne zu wissen, was er meint. Den Lesenden dürfte das hingegen sehr wohl klar sein. Als er vor dem aufgeschlagenen Buch aus dem Sinnieren wieder zu sich kommt, hat er Sybilles Psyche keineswegs seziert, sondern muss sehen, dass er ganz unbewusst volle zwei Seiten mit zahllosen Ausrufezeichen gefüllt hat. Bald wird aber auch ihm klar, was er mit dem Hingemurmelten gemeint hatte: „Sehr leicht sie zu erobern oder einfach unmöglich“. Nun findet er diese Überlegung allerdings „töricht“. Nach einigen Tagen oder Wochen ist er so weit, dass er die Seiten seines „Geheimbuches“ täglich seinen Erkenntnissen und Überlegungen über Sybille, ihren Charakter und ihr Innenleben füllen kann. Doch „die psychologischen Notizen stützten ihn nicht mehr, das Schreiben war ihm verleidet“.
Da Rudolf den Kraft- und Herrenmenschen propagiert, imponiert ihm zwar zunächst einmal, dass Sybille zum „neuen Typus“ der „Frau in der Freiheit“, „die keinen anderen Gesetzen gehorchte, als denen ihres Willens“, zählt und somit, wie er selbst, zu den „superioren Geistern“ gehört. Auch glaubt er, in ihr seine von Nietzsche adaptierte „Herrenmoral […] zum ersten Mal bei einem Weibe“ zu finden. Doch da „er Überlegene nicht erträgt“, aber gerade diese Gefahr in ihrem Falle schnell erahnt, setzt er bald alles daran, sie vor beider Augen klein und unwissend erscheinen zu lassen. Schulmeisterlich fragt er ihr Wissen ab, ob sie Guy de Maupassant kenne, was sie verneint, oder von wem die Sentenz „Eigentum ist Diebstahl“ stamme. Tatsächlich scheint er eine bessere Allgemeinbildung als sie genossen zu haben, was ja angesichts der Bildungsmöglichkeiten, die Männern und Frauen zu dieser Zeit jeweils offenstanden, nicht weiter verwunderlich wäre. Dies erlaubt ihm, sich als ihr Lehrer aufzuspielen, der sie durchs Nationalökonomie-Examen fallen ließe, da sie Pierre-Joseph Proudhons Buch nicht kennt. Dass er einen bestimmten Sachverhalt „weder für möglich noch auch nur für wahrscheinlich“ hält, zeugt allerdings nicht eben von einer Stärke in formaler Logik. Doch auch Sybille entgeht die Ungereimtheit offenbar. Jedenfalls sieht sie stillschweigend über sie hinweg.
Rudolfs an Nietzsches und August Strindbergs Frauenfeindlichkeit geschulte Räsonnements über die Geschlechter führen ihn zu der Ansicht, dass Frauen „die Menschen mit dem dicken Rückenmark, die wohlerzogenen, wohlgewöhnten Reflexmenschen“ seien, „die Männer, und vor allem er selbst“, hingegen „die Menschen der Großhirnrinde, die Leute des spontanen Handelns, der blitzartigen Genialität, der selbständigen Empfindung“. So verlange man(n) von diesen „halb entwickelten Geschöpfen“ des ‚anderen Geschlechts‘ denn auch nichts „als daß sie uns ein Schauspiel geben, leicht lachen, leicht weinen und uns Männern jedes Wort glauben, das wir sagen“. Dies zu verlangen sei „wenig genug“. Doch gerade das wollen die Neuen Frauen zu seinem Missvergnügen „immer mehr abstreifen“.
Sybille ihrerseits zählt sich keineswegs zu den Herren- und Kraftmenschen. Vielmehr spricht sie von sich und ihren Geschlechtsgenossinnen als „Übergangsformen“. Möglicherweise hat die Autorin mit dieser Wortwahl ganz bewusst eine Zwiesprache mit Hedwig Dohm, der Verfasserin des zwei Jahre vor den Betrogenen erschienenen Romans Sibilla Dalmar eröffnet, dessen Protagonistin ganz ähnlich erklärt: „wir sind Übergangsgeschöpfe“. Und so ist womöglich auch die Ähnlichkeit der Vornamen beider Figuren, Sybille und Sibilla, kein Zufall. Die berühmte Autorin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm wiederum greift das Wort von den Übergangsgeschöpfen noch einmal 1902 in ihrem Roman Christa Ruhland auf.
Jedenfalls sind auch Sybille feministische Erkenntnisse keineswegs fremd. So sieht sie etwa sehr klar, dass die Männer „überhaupt in jeder Hinsicht bevorzugt“ sind. Dabei hängt sie keineswegs dem „Dogma von der ethischen Priorität der Frauen“ an. „Wir sind nicht besser als ihr“, erklärt sie in der studentischen Runde während einer Tanzveranstaltung, worauf einer ihrer Kommilitonen erfreut „Endlich eine ehrliche Frau!“ ausruft. Als sie jedoch fortfährt, eben „auf diesem Boden werden wir dann auch gleiche Rechte mit den Männern fordern dürfen“, muss sie sich von Rudolf maßregeln lassen: „Das Frauenrechtlertum steht Ihnen nicht zu Gesicht, Fräulein“, dies solle sie lieber „den Vogelscheuchen“ überlassen und stattdessen mit ihm tanzen.
Tatsächlich hat sie ihm einiges voraus, wie sich nicht nur im Laufe diverser Diskussionen und Streitgespräche, sondern ganz praktisch auch während eines nicht ganz ungefährlichen Bergabstieges in den Schweizer Alpen zeigt. Er sei „zu vorsichtig“, mahnt sie ihn, die ihrerseits mit festem Schritt vorangeht. Doch das behagt dem Herren- und Kraftmensch gar nicht, „So, jetzt wollen wir mal spielen, wie es die anderen Leute machen. Jetzt bist Du die zarte sittige Jungfrau und ich werde Dich stützen, hörst Du“, sagt er in nur vorgeblich scherzhaftem Ton und fordert sie auf: „Steh nicht so fest, laß Dich ein wenig los und stütze Dich doch! Bitte, Ssi, tuʼ nicht so störrisch! Eine Frau muß doch einige Weichheit zeigen können, wenn man sie von ihr verlangt – -“. Doch sie zweifelt daran, dass es „gut gehen“ könne, wenn sie sich auf ihn stützt.
Selbst – und für die Zeit ungewöhnlich genug – auf sexuellem Gebiet ist sie proaktiv und erklärt selbstbewusst: „Nun, warum soll ich […] nicht ebensogut meinen Willen, mein Begehren aussprechen, wie ein Mann?“ Tatsächlich ist sie es dann auch, die ihn küsst (und nicht umgekehrt). Rudolf hat ihr da bereits die gerade damals besonders virulente Männerphantasie der Femme fatale zugedacht und sieht Sybilles „hohe Gestalt von der langen Boa wie eine lockende Schlange umgaukelt“. Sie nennt ihn Rudi, obwohl er diese Verniedlichung keineswegs goutiert. Er wiederum gibt ihr den vermeintlichen Kosenamen Ssi. Denn, so sagt er, das bedeute ja. Offenbar das Wort, das er in jeder Situation am liebsten von ihr vernimmt. Vor allem aber klingt ihr so verballhornter Vorname wie das Zischen der Schlange, die von der Femme fatale als Boa um den Hals getragen wird. Einmal bekennt er ihr sogar: „ich fürchte mich […] vor Ihnen“.
Bald nach ihrem Kuss aber gefällt er sich wieder in der Vorstellung, es sei „unleugbar, daß er sie schon sehr weit gebracht hatte. Nun hatte es den Anschein, als habe sie ihn erobert“. Nach dem Abstieg aus den Bergen alleine ergötzt er sich im Bett eines Hotelzimmers an dem Gedanken, wie „wundervoll“ es doch sei, „ein Weib bis zu diesem Grade um seine Überlegenheit gebracht zu haben“. Das gebe sicher „ein paar unbezahlbare Seiten“ in seinem Notizbuch.
„Von der Begierde gestachelt, sie zu unterjochen“, unternimmt er einmal sogar einen allerdings kläglich scheiternden Versuch, sie zu vergewaltigen. „Wider ihren Willen, preßte er ihren Arm und bog seinen glühenden Mund gegen ihr Gesicht, als er plötzlich einen Schlag empfing, der ihn zurücktaumeln machte“. Sie hat ihm den Zwicker zerschlagen und er blutet an der Wange. „Ich werd mich doch nicht küssen lassen, wenn ich keine Lust dazu habe“, stellt sie klar, worauf er nur zu sagen weiß, sie „gehöre“ doch ihm. „Gehören? Davon kann wohl bei freier Liebe keine Rede sein!!“ erwidert sie mit spöttischem Blick. Denn als freie Geister hängen beide selbstverständlich der freien Liebe an. Beide, das heißt allerdings tatsächlich ganz besonders er.
„Für freie Menschen freier Bund,“ flüsterte er wie zu sich selber, „ohne Bekenntnis, ohne das romantisch aufgeputzte Lügenspiel, das man so gewöhnlich Liebe nennt. Was zum Teufel geht es andere Leute an? Nein, ohne Versprechen und Gelöbnis und Firlefanz und Öffentlichkeit – nur das ist ehrlich, nur das ist menschenwürdig. […] Man blieb beieinander, solange man sich gefiel, und nachher sagte man sich in aller Güte lebewohl. Was ist einfacher? Und so vermied man vollständig, das sexuelle Unrecht an der Frau zu begehen, das immer begangen worden war, und auf das sie sich steiften, und das sie den Männern vorwarfen auf Schritt und Tritt.“
Ein verheirateter Mann sei hingegen „von vorneherein zur Lächerlichkeit verurteilt“.
Sie aber phantasiert mehr oder weniger heimlich davon, mit ihm verlobt zu sein. „Aber Rudolf war so dagegen! Nun, vielleicht mehr in der Theorie, aber da war sie ja ebenfalls dagegen, selbstverständlich. Aber so – es hatte doch seine großen Unbequemlichkeiten“.
Wie sich herausstellt, ist das also keine so einfache Sache, weder mit der freien Liebe, noch mit dem freien Geist. Zumindest die „freie Liebe gibt’s gar nicht“, wie Rudolf Sibille plötzlich renegatenhaft entgegenhält. „Liebe“ fährt er fort, „bedeutet geradezu Band, Kette, Fessel der schlimmsten und engsten Art! Ich bin Dein Gefangener, ja, Ssi, o Du – frohlocke nur, Du bist ebenso gefangen!“ Und auch Sybille legt ihre idealisierenden Vorstellungen dessen, was sie „freie Liebe“ nennen, ab und gesteht sich zuletzt ein: „Einer der Gefangene des anderen! Mohl hatte es gut vorausgesagt.“
Doch sehen sich nicht nur die beiden ProtagonistInnen am Ende von ihren – nicht selten fragwürdigen – Idealen betrogen, sondern jeder und jede einzelne der Clique auf je eigene Art. Und als Sybille irgendwann – da sind beide längst ein Paar – die ihr verbotene Kassette, entdeckt, öffnet und zutiefst empört Rudolfs „Geheimbuch“ liest, was könnte nun anderes kommen als das endgültige Zerwürfnis? Ob es wirklich eintritt, verraten die letzten Seiten des Romans. Der Rezensent aber sieht sich in dieser Frage zum Schweigen verpflichtet, kann sich aber doch nicht enthalten, anzumerken, dass das Buch mit dem womöglich größten Verrat von allen endet.
Um zuletzt den Kreis zum Beginn der Rezension und zu Manns Betrogener zu schlagen, sei noch auf eine Gemeinsamkeit und einen Unterschied zwischen dieser und den Betrogenen Frapans hingewiesen. So, wie sich Manns Protagonistin vom Schicksal, der Vorsehung, der Natur, ihren Hoffnungen oder gar einer göttlichen Macht betrogen sieht, letztlich aber sie selbst es ist, die sich betrügt, gerade so betrügen auch die jungen Leute in Frapans Roman sich selbst. Anders als die bedauernswerte Protagonistin Manns betrügen sie zudem aber auch die andern, sodass der Titel des hier zu besprechenden Romans ebenso treffend Die Betrügenden lauten könnte. Denn sie alle sind beides: Betrogene und Betrügende.
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