„Pankraz, der Schmoller“

Oder: Schmollende Männer einst und jetzt

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Vorgestern Nacht hörte ich mir, schlafgestört wegen Jetlag, Gottfried Kellers Novelle „Pankraz der Schmoller“ an, vorzüglich gelesen von Reiner Unglaub. Der Text weckte in mir zahlreiche Assoziationen zur aktuellen politischen Lage und faszinierte mich so sehr, dass ich ihn mir tagsüber, in etwas wacherem Zustand, gleich noch einmal angehört habe. 

Zeit der Handlung: erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, Ort: eine Kleinstadt in der Schweiz. Der 14jährige Pankraz lebt mit seiner 12jährigen Schwester Estherchen bei seiner Mutter, einer armen Witwe:

Der Sohn war ein unansehnlicher Knabe von vierzehn Jahren,  […], welcher alle Abend, sommers wie winters, auf den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizuwohnen, welches die einzige glänzende und pomphafte Begebenheit war, welche sich für ihn zutrug.   […] und wenn es recht rotes und gelbes Gewölk gegeben, welches gleich großen Schlachtheeren in Blut und Feuer gestanden und majestätisch manövriert hatte, so war er eigentlich vergnügt zu nennen.  […] Im übrigen war es ein eigensinniger und zum Schmollen geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte.

Seine Schwester war zwölf Jahre alt und ein bildschönes Kind. [Es] war sanft und still, ließ sich vieles gefallen und murrte viel seltener als sein Bruder. Doch obgleich es  […] freundlicher und lieblicher war als der Knabe, so gab die Mutter doch diesem scheinbar den Vorzug und begünstigte ihn in seinem Wesen, weil sie Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen und es ihm wahrscheinlicherweise einmal recht schlecht ergehen konnte, während nach ihrer Ansicht das Mädchen nicht viel brauchte und schon deshalb unterkommen würde.

Der Dichter kennt sich aus mit den Geschlechtscharakteren und weiß auch, wie sie zustandekommen. Mutter und Tochter erhalten durch ihre Arbeit (Spinnen) sich selbst und den Pankraz, der es ihnen dankt mit Nichtstun und Schmollen. Der unansehnliche Knabe wird dadurch nicht ansehnlicher oder reifer, vielmehr entwickelt er sich wie folgt: 

So lebte die kleine Familie einen Tag wie den andern, und indem dies immer so blieb, während doch die Kinder sich auswuchsen, ohne dass sich eine günstige Gelegenheit zeigte, die Welt zu erfassen und irgend etwas zu werden, fühlten sich alle immer unbehaglicher und kümmerlicher in ihrem Zusammensein. Pankraz, der Sohn, tat und lernte fortwährend nichts als eine sehr ausgebildete und künstliche Art zu schmollen, mit welcher er seine Mutter, seine Schwester und sich selbst quälte.  […] 

Doch nahm er bei dieser Lebensart merklich zu an Gesundheit und Kräften, und als er diese in seinen Gliedern anwachsen fühte, erweiterte er seinen Wirkungskreis und strich mit einer tüchtigen Baumwurzel oder einem Besenstiel in der Hand durch Feld und Wald, um zu sehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben und erleiden könne. Sobald sich ein solches zur Not dargestellt und entwickelt, prügelte er unverweilt seine Widersacher auf das jämmerlichste durch, und er erwarb sich und bewies in dieser seltsamen Tätigkeit eine solche Gewandtheit, Energie und feine Taktik, sowohl im Aufspüren und Aufbringen des Feindes als im Kampfe, dass er sowohl einzelne ihm an Stärke weit überlegene Jünglinge als ganze Trupps derselben entweder besiegte oder wenigstens einen ungestraften Rückzug ausführte. 

War er von einem solchen wohlgelungenen Abenteuer zurückgekommen, so schmeckte ihm das Essen doppelt gut, und die Seinigen erfreuten sich dann einer heitern Stimmung. Eines Tages aber war es ihm doch begegnet, dass er, statt welche auszuteilen, beträchtliche Schläge selbst geerntet hatte, und als er voll Scham, Verdruss und Wut nach Hause kam, hatte Estherchen, welche den ganzen Tag gesponnen, dem Gelüste nicht widerstehen können und sich noch einmal über das für Pankraz aufgehobene Essen hergemacht und einen Teil davon gegessen, und zwar, wie es ihm vorkam, den besten. Traurig und wehmütig, mit kaum verhaltenen Tränen in den Augen, besah er das unansehnliche, kalt gewordene Restchen, während die schlimme Schwester, welche schon wieder am Spinnrädchen saß, unmäßig lachte. 

Das war zu viel, und nun musste etwas Gründliches geschehen. Ohne zu essen, ging Pankraz hungrig in seine Kammer, und als ihn am Morgen seine Mutter wecken wollte  […], war er verschwunden.

Pankraz bleibt verschwunden, fünfzehn Jahre lang, und kehrt erst mit dreißig Jahren zu den Seinen zurück. Er ist durch die Schule des Lebens erwachsen und zu einem besonnenen, freundlichen Mann geworden. 

Ich war verblüfft, wie genau Gottfried Keller, der große Realist, vor 160 Jahren einen Typus schildert und analysiert – den frustrierten und deshalb sinnlos gewalttätigen jungen Mann –, mit dem wir es heute allenthalben zu tun haben. Der Typ scheint zeitlos zu sein. Wenn es damals ISIS gegeben hätte, wäre Pankraz vermutlich bei denen gelandet. Übrigens bedeutet „Pankraz/Pankratius“ Allesbeherrscher – der Gegensatz zwischen dem Anspruch dieses Namens und der erbärmlichen Pankrazschen Wirklichkeit könnte größer nicht sein.

Nachdem Pankraz mit 30 endlich erwachsen geworden ist, kann er nun den Seinen auch erklären, was damals mit ihm los war:

Als ich damals auf so schnöde Weise entwich, war ich von einem unvertilgbaren Groll und Weh erfüllt, doch nicht gegen euch, sondern gegen mich selbst, diese Gegend hier, diese unnütze Stadt, gegen meine ganze Jugend. Dies ist mir seither erst deutlich geworden. Wenn ich hauptsächlich immer des Essens wegen bös wurde und schmollte, so war der geheime Grund hiervon das nagende Gefühl, dass ich mein Essen nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts tat, ja weil mich gar nichts reizte zu irgendeiner Beschäftigung und also keine Hoffnung war, dass es je anders würde; denn alles, was ich andere tun sah, kam mir erbärmlich und albern vor; selbst euer ewiges Spinnen war mir unerträglich und machte mir Kopfweh, obgleich es mich Müßigen erhielt. So rannte ich davon in einer Nacht in der bittersten Herzensqual und lief bis zum Morgen, wohl sieben Stunden weit von hier.

***

Thema des Dossiers der neuen Emma (Sept./Okt. 2016) ist „Islamismus & Türkei“. Auftakt des Dossiers ist der Artikel „Alice Schwarzer über den gekränkten Mann: Was macht ihn so gefährlich, nicht nur für Frauen?“

Auf dem Cover wird der Artikel angekündigt mit der Schlagzeile „GEKRÄNKTE MÄNNER sind lebensgefährlich. Als Terroristen wie als Amokläufer“. 

Schwarzer führt dann genauer aus, was sie unter dem „gekränkten Mann“ versteht: 

[Die Täter, ob Gotteskrieger oder Amokläufer] sind immer Männer. Es sind fast immer jüngere Männer. Erfahrene Psychologen diagnostizieren bei diesen Männern  […] eine „narzisstische Störung“. In den Augen der Umwelt sind sie klein, sie aber halten sich für groß. 

Eine solche narzisstische Kränkung nach außen zu wenden, auch das ist typisch männlich. Narzisstisch gestörte Frauen wenden in der Regel ihre Aggressionen nach innen, gegen sich selbst.

Schwarzer kreiert einen neuen Typus: den gekränkten Mann. Wenn ich an Keller und seinen Pankraz denke, so würde ich diesen Typus eher als „unfertigen Mann“ bezeichnen. Ein junger Mann oder Junge, der Großes leisten möchte, aber alles, was er andere tun sieht, „erbärmlich und albern“ findet, der Großes erleben möchte – und immerhin den Sonnenuntergang, auf den wir heute kaum noch achten, als großartig entdeckt hat. Aber mehr Großes findet er auch nicht. 

Der unfertige Mann passt auch gut zu Mitscherlichs „friedfertiger Frau“, die wir ja in Kellers Novelle auch vorfinden (die Mutter und Estherchen). Sie sind klug und erwachsen genug, die armseligen Gegebenheiten zu akzeptieren, mit denen Pankraz sich nicht abfinden kann und gegen die er rebelliert.

Es wäre dies keine Glosse im Rahmen von „Laut und Luise“, wenn nicht noch etwas Sprachliches anzumerken wäre. Und da bietet sich natürlich dieses merkwürdige „Schmollen“ an. Bei Keller hat es eine über den Normalgebrauch weit hinausgehende Bedeutung, zum Beispiel wird Pankraz’ 15jähriges Fortbleiben (ironisch) als „langes und gründliches Schmollen“ bezeichnet. Ich empfehle sehr die Lektüre der Erzählung, von der ich bisher nur einen Bruchteil verraten habe.

Ist der Typ des frustrierten und deshalb gewaltbereiten jungen Mannes eher ein „gekränkter Mann“ oder ein „Schmoller“? 

Ich finde „Schmoller“ besser, denn das Schmollen ist aktiv, eine Handlung. Das Gekränktsein oder Gekränktwerden ist dagegen rein passiv. Charakteristisch für den Terroristen und den Amokläufer ist aber gerade die Tat, mit der er seine Quälgeister vernichten will. Da die Quälgeister aus seinem Inneren nach außen gekehrt wurden, aber nur vorübergehend (Pankraz/Keller beschreibt das sehr präzise), ist es nur logisch, dass häufig auch die Selbstvernichtung angestrebt wird. 

Außerdem hat das Schmollen die Konnotation des Kindischen, Unreifen, Unfertigen. Schmollen ist eine Reaktion von Kindern, die mit Widrigkeiten noch nicht souveräner umgehen können. Ein Erwachsener, der schmollt, benimmt sich kindisch. 

Apropos kindisch: Typisch für Donald Trump ist seine Neigung, den Mund zum Schmollmund (pout) zu verziehen. Er ist ein echter Schmoller – und auch mit 70 Jahren noch nicht erwachsen. 

***

Nachtrag: Als Joey das gelesen hatte, fragte sie: „Und? Was machen wir nun mit all den Schmollern, z.B. all den weißen amerikanischen Männern, die außer Wut nichts im Kopf haben und Trump wählen wollen? Sollen sie alle mal schnell für 15 Jahre auf Wanderschaft geschickt werden, bis sie geläutert zurückkommen?“ Ich sagte, Kellers Meinung dazu sollten die LeserInnen selbst herausfinden und halt die Erzählung zu Ende lesen, den Link hätte ich ja geliefert. 

Dann beschloss ich aber, die Antwort doch kurz anzudeuten für alle die, die Kellers Rezept wissen möchten, aber keine Zeit haben, die ganze Geschichte zu lesen: 

Auf der Wanderschaft muss Pankraz erstmals selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Er arbeitet als Erntehelfer und in ähnlichen Jobs und genießt es mit ungekanntem Stolz, für sich selbst verantwortlich, unabhängig und niemandem zu Dank verpflichtet zu sein. In Hamburg heuert er auf einem Schiff an, hilft seinem Chef bei illegalem Waffenhandel und landet schließlich beim englischen Militär, mit dem es nach Indien geht. Nach einer unglücklichen Liebesgeschichte mit der Tochter seines Kommandeurs verabschiedet er sich nach Paris und kommt schließlich mit der Fremdenlegion nach Nordafrika, wo er es bis zum Obersten bringt. In seiner Freizeit geht er in der Wüste allein auf Löwenjagd, wobei „es darauf ankam, [den Löwen] sicher zu treffen oder zugrunde zu gehen. Die stete Wiederholung dieser einen großen Gefahr sagte meinem Wesen zu, und nie war ich behaglicher…“ Einmal steigt er in eine Schlucht, aus der es wunderbar nach Blumen duftet. Sein Gewehr hat er am Rand der Schlucht abgelegt. Als er zurückkommt, sieht er einen großen starken Löwen, der schon eine Zeitlang die Gegend unsicher machte, neben seinem Gewehr sitzen,

und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde er gesprungen sein und mich unfehlbar zerrissen haben. Aber ich stand und stand so einige lange Stunden… Er legte sich gemächlich nieder und betrachtete mich. Die Sonne stieg höher, aber während die furchtbarste Hitze mich zu quälen anfing, verging die Zeit so langsam, wie die Ewigkeit der Hölle. […] Hundertmal war ich versucht, allem ein Ende zu machen und auf das wilde Tier loszuspringen mit bloßen Händen, allein die Liebe zum Leben behielt die Oberhand […]. Das war die bitterste Schmollerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieser Gefahr entränne, so wolle ich umgänglich und freundlich werden, nach Hause gehen und mir und anderen das Leben so angenehm wie möglich machen.  […] Indem ich aber so eine lange Minute nach der anderen abwickeln und erleben musste, verschwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, selbst gegen den Löwen, und je schwächer ich wurde, desto geschickter wurde ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, dass ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug.

Zwei Patrouillesoldaten kommen ihm schließlich zu Hilfe, und gemeinsam erlegen alle drei den Löwen. „Noch in selber Woche aber führte ich mein Gelübde aus, kam um meine Entlassung ein, und so bin ich nun hier.“

Und die Moral von der Geschicht? Wie wird der wilde Mann schließlich gebändigt zu einem freundlichen Mitmenschen? Durch ein wildes Tier, das ihm überlegen ist und durch  stundenlange Todesgefahr, die ihn schließlich zermürbt?

Ich lese den guten Ausgang der Geschichte so: Pankraz ist in eine Situation geraten, in der weder Schmollen noch Um-sich-Schlagen etwas bringt. Bis er das aber auch als Lebenslektion versteht, muss er lange schmoren: „Dieser Bursche war mein Lehrer und Bekehrer und hat mir zwölf Stunden lang so eindringlich gepredigt, dass ich armer Kerl endlich von allem Schmollen und Bössein für immer geheilt wurde,“ erklärt Pankraz den Seinigen, die als „friedfertige Frauen“ schon von Anfang an wussten, dass die meisten Probleme nur zusammen mit anderen (die Patrouille!) zu lösen sind. Oder wie Hillary es in ihrem Wahlslogan ausdrückt: „Stronger together“.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.