Franz Kafka in Kalpadotia

Anti-Idylle, Science-Fiction und erratischer Block zugleich – „Mimner oder das Tier der Trauer“ des tschechischen Schriftstellers Jiří Gruša (1938–2011)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Jiří Grušas Mimner oder das Tier der Trauer liegt ein verstörender Roman vor. Der Autor selbst bereitet den Leser darauf vor, indem er dieses ungewöhnliche Buch mit dem unmissverständlichen Satz eröffnet: „Schlecht verstand ich ihre Sprache“. 

Der Ich-Erzähler berichtet von einer Art erzwungenem Aufenthalt unter den fremdartigen Alchadoken in einem exotischen Land, einem im wahrsten Sinne des Wortes vollkommen unverständlichen Kulturkreis. Die von der europäischen Philosophie evozierte „Umwertung aller Werte“ scheint hier, im verschneiten Kalpadotia, verwirklicht zu sein. Der Erzähler, von dem nicht ganz klar wird, ob er Gast, Besucher oder Gefangener ist, berichtet von seinen Verständigungsschwierigkeiten, die im Übrigen auch auf den Leser übergreifen. Immer wieder werden Begriffe der fremden Sprache übersetzt und als einschlägige Schlüsselwörter zur weiteren Verwendung gebraucht.

Bei allen Berichten über Vorgänge, die in einer nüchternen und unaufgeregten Weise vorgetragen sind, geht es letztlich um nichts weniger, als das schiere Überleben. Zuweilen geraten Gefahren in greifbare Nähe, dann wieder erlauben willkürliche Launen dieser fremdartigen Wesen überraschende Wendungen. Im Laufe der Zeit verheiratet sich der Erzähler sogar mit einer Einheimischen, auf deren buschige Augenbrauen er wiederholt zu sprechen kommt. Selbstredend sind auch die intimen Vorgänge in Kalpadotia irritierend und werden durchaus unverhüllt beschrieben. Besonders verstörend ist der öffentliche Charakter des Beischlafes, an den sich der Ich-Erzähler nicht gewöhnen kann.

In seinem Vorwort erinnert Grušas Freund Hans Dieter Zimmermann an die mitteleuropäische Albtraumwelt und führt nicht von ungefähr Franz Kafka und Alfred Kubin an. Bei Jiří Gruša kommen freilich noch die Erfahrungen mit dem „real existierenden Sozialismus“ hinzu. Dass der Autor infolge der „samtenen Revolution“ vom November 1989 Botschafter seines Landes werden würde, Politiker und Direktor der Diplomatischen Akademie Wien, stellt keine Widerlegung, sondern eine wundersame Ergänzung dieser realen Phantasmagorie dar.

Ein Blick in die tschechische Literaturgeschichte vermittelt psychologische wie historische Hintergrundinformationen, die zur Entschlüsselung dieses verstörenden Romans beitragen. Jiří Gruša gehörte der sogenannten „Generation der Sechzigerjahre“ an, welche die Schrecken des Weltkrieges höchstens noch während der frühen Kindheit mitbekommen hatten und auch nicht zur ideologisch ausgerichteten Avantgarde des sozialistischen Aufbaues gehörten.

Anlässlich seiner Dresdner Poetik-Vorlesungen hatte sich Jiří Gruša über biographische Aspekte seines literarischen Schaffens geäußert: „Nach 1948 kamen fast 50 Jahre Diktatur, und meine Generation kriegte den vollen Anprall ab“.

Somit scheint der Eindruck gerechtfertigt, dass Gruša in diesem Roman die besonderen Erfahrungen einer Gesellschaft zum Ausdruck bringen wollte, die sich bei dem erzwungenen Experiment der Errichtung eines „real existierenden Sozialismus“ einstellen. In sublimer Weise werden Vorgänge durchgespielt, die kennzeichnend für aufoktroyierte Gesellschaftsformen sind. Die Folgen werden anschaulich in der Zerstörung des Denkens, der Sprache und der Moral in Kalpadotia zum Ausdruck gebracht.

Es scheint kein Entrinnen zu geben. Im vorliegenden Roman wird sogar der versuchte Ausbruch aus einer beklemmenden Welt geschildert. Eine Art Auswanderung, die letztlich aber zu keiner Befreiung führt. Das Ende ist ein vollkommener Niedergang.

Einige Kapitel aus Mimner oder das Tier der Trauer waren in der ČSSR ursprünglich unter dem Pseudonym Samuel Lewis in der Literaturzeitschrift „Sešity pro mladou literaturu a diskusi“ (Hefte für junge Literatur und Diskussionen) erschienen. Diese Publikation war unter anderem der Grund, warum der Dichter und Redakteur Petr Kabeš seinerzeit seine Leitung bei den „Sešity“ abgeben musste. Es ist eine Geste der solidarischen Kollegialität, daß Gruša diesen Roman Petr Kabeš gewidmet hat.

Infolge dieser Veröffentlichung sah sich Gruša seitens staatlicher Behörden dem Vorwurf der „Pornografie“ ausgesetzt. Eine strafrechtliche Verfolgung führte schließlich zu seinem Publikationsverbot in der ČSSR.

In seinem umfangreichen Nachwort „Vision einer verirrten Gesellschaft“ berichtet der tschechische Schriftsteller Milan Uhde über diese Vorgänge. Er hatte Jiří Gruša nicht nur gut gekannt, sondern gemeinsam mit ihm und zahlreichen anderen Schriftstellern der ČSSR das Schicksal geteilt, über Jahrzehnte hinweg im eigenen Land nicht mehr veröffentlichen zu dürfen.

Titelbild

Jirí Gruša: Mimner oder das Tier der Trauer. Prosa I.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2015.
400 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783990291658

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