Jähes Ende einer Kindheit
Ida Simons lässt in ihrem Roman „Vor Mitternacht“ verschiedene Welten aufeinanderprallen
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseImmer, wenn sich die Eltern der zwölfjährigen Gittel streiten, und zwar heftiger als üblich, denn harmlose Streitereien gehören bei ihnen im Alltag dazu, packt die Mutter ihre paar Sachen zusammen und fährt mit der Tochter zu ihren Eltern. Dort werden sie nicht etwa mit offenen Armen empfangen, die Tür steht nur offen, weil die Großmutter einmal gesagt haben soll: „Ich bleibe nur in diesem unbequemen Kasten wohnen, damit all meine Kinder und Enkelkinder nach Hause kommen können, wenn sie Lust haben.“
Als es wieder einmal so weit ist, packt die Mutter ungewöhnlich viel ein, denn ihr ist es dieses Mal ernst, sechs Monate will sie bleiben. Gemeinsam mit der Großmutter leben im „Kasten“ die Hilfe Rosalba und Oma Hofer. Wie Rosalba hierher gelangt ist, erfährt man nicht, und was es mit Oma Hofer auf sich hat, löst sich auch erst nach und nach auf. Für Gittel sind die Wochen in Antwerpen wenig erfreulich: Sie muss sich mit ihren jüngeren Cousinen und Cousins beschäftigen, wenn deren Kindermädchen frei haben, sie muss jeweils am Freitagabend einen Schnorrer ertragen, den ihr Onkel aus der Synagoge mitbringt und zwischen sie und Rosalba setzt; sie leidet unter seinem Schmatzen und Schlürfen. Lustiger wird es, wenn der Schnorrer Geschichten erzählt, denn die sind meist witzig und unterhaltend.
Bei einem Besuch in der Synagoge – für Großmutter an jedem Samstag Pflicht – lernt Gittel die um einige Jahre ältere Lucie Mardell kennen. Die Väter der beiden haben sich früher gekannt. Lucie spricht Gittel auf ihr Klavierspiel an, und weil sie weiß, dass Gittels Familie nicht sehr begütert ist, erkundigt sie sich, ob sie denn überhaupt ein „gutes Instrument“ zur Verfügung habe. Gittel liebt es, Klavier zu spielen und ist auch recht begabt. Umso mehr freut sie sich über die Einladung zu den Mardells, an einem Samstag nach dem Besuch der Synagoge zu ihnen zu kommen und auf dem Steinway zu spielen. Hier lernt Gittel eine ganz andere Familie kennen. Von Herrn Mardell wird sie freundlich empfangen, Lucie mag sie offensichtlich, und Gabriel, den ihr Lucie als „Lehrburschen“ vorstellt, gefällt ihr. Die Besuche werden immer häufiger, dieses Mal geht es Gittel während des Aufenthalts bei der Großmutter richtig gut.
Zwischen Lucie und Gittel entwickelt sich rasch eine zarte Freundschaft. Gittel öffnen sich Türen und sie lernt Welten kennen, die sie sich nicht einmal in kühnen Phantasien hätte vorstellen können. Dass Gabriel immer häufiger mit von der Partie ist, schätzt sie letztendlich; sie erlebt ihn keineswegs als störend, denn er besitzt ein umfangreiches Wissen, das er nur allzu gerne weitergibt. Als Gittel mit ihrer Mutter – wie übrigens jedes Mal – viel früher als geplant wieder zum Vater zurückkehrt, freut sie sich gar nicht. Sie schreibt der umschwärmten Freundin sehnsuchtsvolle Briefe. Umso schmerzhafter wird für sie später die Erkenntnis, dass Lucies Interesse nicht ihr als Person gegolten hat, sondern dass sie die Freundin nutzte, um ihre Liebe – zu Gabriel – geheim zu halten. Die Enttäuschung darüber nagt lange an Gittel.
Ida Simons – so schreibt die niederländische Verlegerin Eva Cossé im Vorwort zur deutschsprachigen Neuausgabe von Vor Mitternacht im Herbst 2016 – kam 1911 als Ida Rosenheimer in Antwerpen zur Welt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges zog die Familie nach Scheveningen und nahm die niederländische Staatsbürgerschaft an. Nach ihrer Heirat mit dem Juristen David Simons feierte Ida als Pianistin internationale Erfolge. 1943 wurden Ida und David Simons sowie ihr Sohn Jan in das Durchgangslager Westerbork deportiert, ein Jahr kamen sie nach Theresienstadt. Nur knapp entgingen sie der Vernichtung. Ida Simons konnte nach dem Krieg ihre Karriere als Pianistin nicht lange fortsetzen, zu sehr hatte die Lagerhaft ihre Gesundheit angegriffen. Mittlerweile lebte sie wieder in Scheveningen, wo sie zu schreiben begonnen hatte und mit dem Roman Vor Mitternacht, der 1959 erschien, rasch berühmt wurde. Doch den großen Erfolg ihres Buchs erlebte sie nicht mehr, denn sie starb überraschend 1960. Eine erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1959, nun legt der Luchterhand Verlag anlässlich des Gastlandauftritts der Niederlande auf der Frankfurter Buchmesse 2016 den Roman in einer neuen Übersetzung von Marlene Müller-Haas vor. Vor Mitternacht lebt von den zahlreichen Geschichten und Anekdoten, die in einer sinnlich-reichen Sprache erzählt werden und Türen öffnen zu Gittels und Lucies Familien und Einblick geben ins jüdische Leben in Antwerpen während der 1920er-Jahre. Mit großer Sensibilität für die Zwischentöne und einem feinen Gespür für Humor erzählt die Autorin aus der Perspektive eines Mädchens, das in seiner Umgebung gut aufgehoben aufwächst, später jedoch konfrontiert wird mit anderen Lebenswelten, in denen es sich nur schlecht zurechtfindet.
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