Essen als Leidenschaft

J. Ryan Stradals „Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens“ lüftet ausschließlich ein Herkunftsgeheimnis

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zunächst könnte man beim Blick auf den Titel und den schön gestalteten Umschlag von Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens an ein Kochbuch denken. Und auch die Anleitung für Chilli-Öl, auf die man schon bald stößt, lässt mehr Rezepte für kulinarische Freuden vermuten, als dann tatsächlich auftauchen. Nichtsdestotrotz dreht sich der Roman von J. Ryan Stradal durchaus um den Genuss, der einem ein richtig gutes Essen beschert; auch wenn es nicht direkt ums Kochen, sondern vielmehr um eine Köchin geht.

Als Kind weiß Eva Thorvald zunächst nicht, dass „Mom“ und „Dad“, die sich in Niedriglohnjobs abrackern, nicht ihre leiblichen Eltern sind. Beständig wundert sie sich jedoch, warum sie sich nicht nur von ihnen, sondern mehr oder weniger von jedem in ihrem Provinznest zu unterscheiden scheint. Als ewige Außenseiterin gedemütigt, beschließt sie, einfach nur noch den eigenen Interessen nachzugehen, die so ganz anders sind als die ihrer Altersgenossen.

So züchtet sie megascharfe Chilipflanzen im begehbaren Kleiderschrank und verhökert diese an das mexikanische Restaurant, dem einzigen Ort, wo sie sich (außer bei ihrem drogengefährdeten Cousin Randy und ihrer coolen Cousine Braque) wohlfühlt. Was sie umtreibt, ist ein tiefer innerer Wunsch nach besonderem Essvergnügen. Was sie nicht ahnt, ist die Tatsache, dass sie ihre Vorliebe für alte Tomatensorten, frischen Fisch und den Geschmackssinn von den Eltern in die Wiege gelegt bekam.

Denn der vermeintliche Onkel, der ausgerechnet beim Versuch, ein traditionelles scheußliches Fischgericht aus Norwegen zu servieren, in frühem Alter verstarb, war in Wirklichkeit ihr Vater und ein begeisterter Profi-Koch. Währenddessen ist ihre totgeglaubte Mutter gar nicht tot, sondern verschwand, als Eva ein Baby war, eines Tages als aufstrebende Sommelière nach Kalifornien und ward nie wieder gesehen. So macht sich Eva allein ans Werk, ihr besonderes Talent zu pflegen und von der Pike auf zu lernen, wie man Menschen mit gutem Essen glücklich macht.

Wunderbar lakonisch und mit gut dosiertem Humor bezeugt der Roman nicht nur die tiefe Liebe des Autors zu gutem Essen, sondern auch seine ebenso große Liebe zu „Normalos“ und Underdogs, die er mit ihren Unzulänglichkeiten als sympathische Charaktere zeichnet, die immer dann über sich hinauswachsen, sobald man sie das tun lässt, was sie lieben – zum Beispiel Kochen. Erzählt wird das Ganze in chronologischer Reihenfolge in Kapiteln, die jeweils aus der Sicht unterschiedlicher Personen erzählt werden. Sie sind alle auf ihrem Lebensweg irgendwie mit Eva (und dem Thema Essen) verbunden, auch wenn diese Verbindung oft erst viel später im Buch offenbar wird. So eröffnet sich dem Leser eine bunte Mischung aus höchst unterschiedlichen Lebenswelten von Menschen, die am Ende doch schaffen, was man ihnen nie zugetraut hatte: ein halbwegs erfülltes und zufriedenes Leben zu führen.

Inwieweit das auch der Protagonistin Eva gelingt, ist indes nicht ganz klar. Denn obwohl sie die Hauptfigur des Romans ist, bleibt sie zumindest als Erwachsene oft etwas nebulös und wenig fassbar, vor allem was ihre Gefühle und Gedanken anbelangt. Auch nervt etwas, dass aus dem bodenständigen Mädchen am Ende eine VIP-Event-Köchin wird, die äußerst illustre Dinner mit jahrelangen Wartezeiten zu schwindelerregenden Preisen abhält, bei denen den Gästen an Überraschungs-Locations feinste Sterneküche serviert wird.

Aber auch wenn ausgerechnet die Hauptfigur im Lauf des Romans ein wenig verblasst, entschädigt der Autor dies allemal mit dem humorvoll, empathisch und leicht ironisch gezeichneten Reigen der Nebenfiguren mit ihren Geschichten und Geschichtchen. So etwa Pat Pragers Konkurrenzkampf in der Kirchengemeinde um die Teilnahme am Wettbewerb zum besten Kuchenriegel auf einer der üblichen „Fairs“ (einer Mischung aus Kirmes und Landwirtschaftsschau), die zu den gesellschaftlichen Ereignissen im ländlichen Amerika gehören.

Titelbild

J. Ryan Stradal: Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
448 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069754

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