Abschreiben erlaubt

Bernd Posselt über die „Konzeption und Kompilation der Schedelschen Weltchronik“

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Plagiatsverdacht – ein Wort, das die meisten Studenten und selbst noch angehende Doktoranden oder bereits Promovierte in helle Aufregung versetzt. Bloß jedes fremde Gedankengut in seinen eigenen Ausführungen zu kennzeichnen, wird jedem akademischen Neuling von Beginn an eingeflößt und in den letzten Jahren entwickelte sich die Jagd nach Plagiaten in Doktorarbeiten von Politikern fast zu einer Art Volkssport. Ein solches „Abschreibeverbot“ gab es bereits in der Antike und auch im Mittelalter wurde auf das Kennzeichnen von Zitaten großer Wert gelegt. Zwar war es bei mittelalterlichen Weltchroniken durchaus üblich, den eigenen Text vollständig aus Textstellen älterer Vorlagen zu übernehmen und neu zusammenzufügen. Jedoch mussten auch hier die Zitate gekennzeichnet werden, sodass die intentio auctoris – die Intention des ursprünglichen Verfassers – erkennbar blieb. Für diese Art von Texten wurde der Begriff der Kompilation (lat. compilatio, Plünderung) geprägt. Auf den ersten Blick erscheint der Begriff negativ, doch durch eine derartige Übernahme von Textstellen älterer Vorlagen konnte das seit Jahrhunderten gelehrte und nicht angezweifelte Wissen der antiken und mittelalterlichen Autoritäten bewahrt werden.

Der Nürnberger Stadtarzt Hartmann Schedel gilt in der Forschung unbestritten als Kompilator der nach ihm benannten Schedelschen Weltchronik. Schedel erstellte also aus unterschiedlichen lateinischen Vorlagen seine eigene Chronik. Der Altphilologe Bernd Posselt widmet sich in seiner Dissertation ausführlich diesem Thema. Er geht dabei den Fragen nach der Konzeption, dem Aufbau, der Struktur, den Vorlagen sowie den Kompilationstechniken der Schedelschen Weltchronik nach, welche in der bisherigen Forschung kaum betrachtet wurden. Das Hauptaugenmerk der Forschung lag laut Posselt bisher stärker auf der einzigartigen illustrativen Ausstattung der Chronik und weniger auf dem Text, dessen Verständnis sich jedoch erst aus der Kenntnis der unmittelbaren Vorlagen ergibt.

Das besondere an Schedels Weltchronik im Vergleich zu anderen Chroniken der Zeit ist das fast durchgehende Nichtmarkieren von übernommenen Zitaten. Schedel nennt in seinem Werk weder seine Hauptvorlagen, wie etwa das Supplementum chronicarum des Augustinermönchs Giacomo Filippo Foresti, noch kennzeichnet er direkt übernommenes Gedankengut. Außerdem ist Schedels Vorgehen bei der Kompilation von einer sehr hohen Komplexität geprägt. Für seine Artikel nimmt er mindestens zwei, häufig sogar mehrere Texte als Vorlage und verschränkt diese auf komplizierte Weise miteinander, sodass die Ursprungsquellen schwer zu erkennen sind. Als Beispiel bringt Posselt den Artikel über die babylonische Herrscherin Semiramis an: „In dem nur 19 Druckzeilen umfassenden Text sind 13 Vorlagenwechsel […] enthalten“, die alle ohne Angabe der jeweiligen Vorlage ineinander gefügt wurden. Posselt wirft Schedel allerdings keineswegs Verschleierung seiner Vorlagen vor. Vielmehr wollte der Kompilator seinem Publikum einen leicht verständlichen Lesetext bieten und vermied daher die ständige Unterbrechung des Textes durch Literaturangaben. Wie Posselt richtig herausstellt, war es dem Publikum der Weltchronik durchaus bewusst, dass es sich dabei nicht um ein eigenständiges Werk Schedels, sondern eine Kompilation aus unterschiedlichen Quellen handelte.

Im weiteren Verlauf seiner Dissertation stellt Posselt die unterschiedlichen Kompilationstechniken vor, die Schedel in seinem Text anwendet. Diese sehr gründliche Analyse ist deutlich an ein Fachpublikum gerichtet und geht für einen interessierten Laien zu sehr ins Detail. Jedoch sind diese Kapitel unumgänglich für das Verständnis der darauf folgenden Betrachtungen ausgewählter Beispiele aus dem Chroniktext. Hier wendet sich Posselt zuerst den Papstbiographien zu, einer Gattung, die in der Schedelschen Weltchronik einen besonders großen Raum einnimmt. Über 150 Blätter – deutlich mehr als die Hälfte des Textes – widmen sich den Päpsten von Petrus bis zum Gegenwartspapst Alexander VI. An konkreten Artikelbeispielen über Urban I. sowie Pius II. und Paul II. stellt Posselt anschaulich die Hauptquellen der Papstbiographien und das Vorgehen Schedels bei der Verarbeitung seiner Vorlagen heraus.

Im nächsten, größten Block seiner Arbeit wirft der Altphilologe einen Blick auf die bekannteste Gattung der Schedelschen Weltchronik: Die Stadtbeschreibungen. Diese sind vor allem durch ihre besonders schönen Holzschnitte bekannt. Die Stadtansichten stehen mit dem jeweiligen Städtelob (laus urbis) in einem engen Wechselverhältnis und bilden zusammen stets ein einheitliches Seitenlayout. Das Innovative dabei ist, dass Schedel vom Italozentrismus seiner Vorlagen abrückt und den Fokus verstärkt auf Städte des Heiligen Römischen Reiches richtet. Doch weiterhin spielen die italienischen Städte eine herausgehobene Rolle. Rom kommt neben Nürnberg – der Entstehungs- und Druckstadt des Werkes – mit drei Seiten die längste Beschreibung zu. Außerdem stellt Posselt heraus, dass die Stadtansichten bei den italienischen Städten am ehesten an der Wirklichkeit orientiert waren, wohingegen bei manch anderen Städten Fanatasieansichten Eingang in die Chronik fanden. Als konkrete Textbeispiele bearbeitet Posselt in zwei Kapiteln jeweils drei verschiedene Städte. In einer detaillierten Analyse wendet er sich zunächst den drei Bischofssitzen Köln, Mainz und Trier zu, die auf die Hauptvorlage, das Supplementum chronicarum, zurückgehen. Neben Wien und Prag wird anschließend Bamberg genauer betrachtet. Hier stellt der Autor ein neuentdecktes älteres Textfragment der Bambergbeschreibung vor, das der Forschung bislang nicht bekannt war. Im direkten Vergleich mit der Vorlage kann so der Kompilationsprozess noch genauer nachempfunden werden.

Die von Posselt angeführten Textbeispiele der Päpste und Stadtbeschreibungen sind darüber hinaus im zweiten Teil des Anhangs vollständig in einer synoptischen Gegenüberstellung mit ihren Vorlagen zu finden. Hier deutet sich der große Arbeitsaufwand an, der hinter der vom Autor selbst zukünftig angestrebten vollständigen Edition der Schedelschen Weltchronik mit ebensolchen Textvergleichen der Vorlagen steckt. Neben den ersten Schritten hin zu einer vollständigen Edition ist die umfassende Auflistung der verwendeten Vorlagen im Anhang I die herausragende Leistung von Bernd Posselts Dissertation. Seit der Arbeit von Michael Haitz aus dem Jahr 1899 gab es keinen solchen Versuch mehr. Dies ist Bernd Posselt hoch anzurechnen.

Die 16 farbigen Abbildungen am Ende des Bandes, die neben Ausschnitten aus der Schedelschen Weltchronik unter anderem auch Schedels Entwurf zu Bamberg sowie einige andere Handschriften zeigen, sind eine schöne Ergänzung zu den Ausführungen des Autors. Möchte der Leser allerdings alle Verweise Posselts auf die Schedelsche Weltchronik nachvollziehen, so benötigt er zum besseren Verständnis eine vollständige Ausgabe der Chronik. Wie auch in der Schedelschen Weltchronik beginnt die Zusammenstellung von Abbildungen mit dem Holzschnitt des Gottvaters und der Erschaffung der Welt und endet mit dem Jüngsten Gericht.

Für die zukünftige Forschung zur Schedelschen Weltchronik hat Bernd Posselt mit seiner fast vollständigen Auflistung der Vorlagen – auch wenn der Prozess noch nicht ganz abgeschlossen ist – einen wichtigen Beitrag geleistet. Für ein nicht fachwissenschaftliches Publikum ist das Thema seiner Arbeit allerdings zu speziell, auch wenn Posselts Sprache sowie seine ausgewählten Beispiele und selbst die Interpretationen der lateinischen Zitate gut verständlich sind.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Bernd Posselt: Konzeption und Kompilation der Schedelschen Weltchronik.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2015.
618 Seiten, 84,00 EUR.
ISBN-13: 9783447104340

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