Geschichten aus dem deutsch-deutschen Literaturbetrieb

Konstantin Ulmer über den Luchterhand Verlag

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Dezember 1954 hielt Hans Mayer, damals noch Professor an der Universität Leipzig, den Festvortrag zum 110. Gründungstag des Verlags Rütten & Loening. Darin mahnte er seine Disziplin, die Literaturwissenschaft, ihren Forschungsgegenstand nicht auf einen wie immer gearteten Kanon allgemein als wertvoll anerkannter Dichtung zu beschränken, sondern um vermeintlich ‚mindere‘ Genres wie Kitsch, Kolportage und Publizistik zu erweitern. Auch die „großen Verlage“ gehörten dazu, denn schließlich seien sie „Bestandteil der Literaturgeschichte im weitesten Sinne“, insofern unverzichtbar für Studien, die sich in die Gefilde der Literatursoziologie hinauswagen wollten. Mayers Plädoyer lief auf „Verlagsgeschichte als Literaturgeschichte“ hinaus, die sich den Produktions- und Distributionsbedingungen literarischer Hervorbringungen zuwendet, das Ineinander und Gegeneinander interner wie externer Faktoren abwägt, den Blick auf die Entscheidungsprozesse lenkt, die der Veröffentlichung von Manuskripten vorausgehen, auf die Debatten, die diese auslösen, nicht zuletzt auf die biografischen Hintergründe und die Spielräume des daran beteiligten Personals.

In diesem Sinne, dabei die Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu nutzend, schreibt der Kulturwissenschaftler Konstantin Ulmer über einen Verlag, der von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre hinein in den deutsch-deutschen Literaturbeziehungen eine zentrale Rolle spielte. Der Titel VEB Luchterhand greift ein polemisches Wort des Lyrikers Bernd Jentzsch auf, der wegen seines Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns von einem Studienaufenthalt in der Schweiz vorsichtshalber nicht mehr in die DDR zurückgekehrt war. Ulmer versieht dies zu Recht mit einem relativierenden Fragezeichen. Denn Luchterhand hatte zwar mit Anna Seghers, Christa Wolf und Hermann Kant Autoren von Rang unter seinen Fittichen und musste manchen Kompromiss mit den verantwortlichen Polit- und Literaturfunktionären eingehen, war aber nicht bereit, sich aus lauter Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse und Empfindlichkeiten der Partner in Ostberlin von seinen in der Bundesrepublik erfolgreichen Zugpferden zu verabschieden. Der eine war Günter Grass, der in der DDR viele Jahre als persona non grata gehandelt wurde, der andere, der sowjetische Dissident und Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn, war jenseits der Elbe ebenso wenig wohlgelitten wie der Literatur- und Realismustheoretiker Georg Lukács, der wegen seiner Beteiligung am Ungarnaufstand 1956 in Ungnade gefallen war.

Den äußeren Daten der Verlagsentwicklung schenkt Ulmer eher beiläufige Beachtung. Die Anfänge sind rasch erzählt, sie reichen zurück ins Jahr 1924. Gegründet von Hermann Luchterhand, handelte es sich zunächst um einen auf Steuertabellen und juristische Loseblattsammlungen spezialisierten Fachverlag. 1934 trat Eduard Reifferscheid als Prokurist in das Unternehmen ein, übernahm 30 Prozent der Geschäftsanteile und erhielt 1936 Generalvollmacht. Die NS-Herrschaft überstand er mit allenfalls geringfügigen Friktionen, die Geschäfte liefen gut, 1939 wurde eine moderne Druckerei erworben. Deren Besitzer war mit einer jüdischen Frau verheiratet und erlitt Repressalien, was man bei Luchterhand ausnutzte, möglicherweise auch aktiv gefördert hatte. Das war – von heute aus gesehen – ein Schatten auf der Erfolgsgeschichte, hinderte Reifferscheid wie auch manch anderen jedoch nicht, sich nach 1945 zum Antifaschisten auszurufen. Er erhielt im französischen Sektor von Berlin eine Lizenz, eröffnete – mittlerweile im Besitz der Mehrheitsanteile – 1948 in Neuwied eine Zweigniederlassung und erweiterte 1954 den Betrieb um eine literarische Abteilung, auf die er in den folgenden Jahren beträchtliche Ambitionen richtete.

Fortan war der Verlag zweigeteilt: in einen – progressiv bis avantgardistischen – literarischen und einen – eher konservativen – juristischen Zweig, zwischen denen immer wieder Spannungen aufbrachen. Nach der endgültigen Übersiedlung in die Bundesrepublik war der eine beheimatet in Darmstadt, der andere in Neuwied. Während dieser durchweg profitabel war, lebte jener von verlagsinterner Mischkalkulation und Quersubvention. Mit der Herausgabe der nach zwei Jahren schon wieder eingestellten Zeitschrift „Texte und Zeichen“, für die Alfred Andersch verantwortlich zeichnete, verdiente Luchterhand zwar kein Geld, wohl aber setzte man Zeichen, sammelte symbolisches Kapital an und begann, sich im Markt allmählich zu etablieren. Hinzu kam der Aufbau einer wissenschaftlichen Sparte unter dem Lektor Frank Benseler, ein Marxist, der prominente Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler wie Wolfgang Abendroth, Leo Löwenthal, Jürgen Habermas und Arnold Gehlen betreute und eine neue Schriftenreihe, die nachgerade berühmten Soziologischen Texte, ins Leben rief.

Im literarischen Feld dominierten vor allem zwei Lektorinnen, zunächst Elisabeth Borchers, selber Lyrikerin mit exzellenten Kontakten in die DDR, die maßgeblich dazu beitrug, Luchterhand zur führenden Adresse im deutsch-deutschen Literaturtransfer zu machen. Nach ihrem Wechsel zu Suhrkamp füllte Ingrid Krüger diese Rolle mindestens ebenso engagiert, energisch und effizient aus. Seither herrschte zwischen den beiden Verlagen allerdings scharfe Konkurrenz bei der Akquisition atraktiver Buchrechte, die einer der Beteiligten als „eine Art Kriegszustand“ beschrieb. Daß Luchterhand, um ein Wort Freimut Duwes aufzugreifen, über Jahre hinweg als Repräsentant eines „geistigen Gesamtdeutschland“ firmieren konnte, war darüber hinaus den Geschäftsführern geschuldet, dem schweizerischen Büchermacher und Schriftsteller Otto F. Walter und – nach dessen Weggang – Hans Altenhein, die ungeachtet mancher Friktionen bei Reifferscheid die nötige Unterstützung fanden, einem Verleger, dem die Bewahrung einer deutschen Kultur- und Literaturnation durch wechselseitige Förderung und wechselseitigen Austausch Überzeugungs- und Herzenssache war.

Dies freilich verlief alles andere als reibungslos, war begleitet von zahllosen Winkelzügen, ideologischen Vorbehalten sowie politisch und ökonomisch motivierten Volten. Ulmer exemplifiziert das anhand von Fallstudien, in denen er die Konstellationen und die Akteure, die Mit- und Gegenspieler bei der Erteilung von Druckgenehmigungen in der DDR und der Gewährung von Lizenzen für den bundesdeutschen Markt ins Auge fasst. Die Geschichte des Luchterhand Verlags, aber auch die der deutsch-deutschen Literaturbeziehungen erwächst so aus einer Fülle anschaulich erzählter Produktionsgeschichten, die zwar gewisse, sich wiederholende Muster erkennen lassen, denen am Ende aber doch jeweils höchst individuelle, im vorhinein wenig kalkulierbare situationsbezogene Züge anhafteten.

Ein erster Markstein in dieser Entwicklung war Anfang der 1960er-Jahre der Erwerb der Lizenz für Anna Seghers Exilroman Das siebte Kreuz, der bis dahin nur im Ostberliner Aufbau Verlag verfügbar war. Das war ein Schachzug, der gleichermaßen „symbolischen Gewinn“ wie „schwarze Zahlen“ versprach, in der Bundesrepublik aber auch heftige Reaktionen hervorrief. Günter Grass, Luchterhands westdeutsches Zugpferd, attackierte Seghers, die Präsidentin des ostdeutschen Schriftstellerverbandes, unmittelbar nach Errichtung der Mauer im August 1961, nun heiße der „Kommandant des Konzentrationslagers“ nicht mehr wie im Roman Fahrenberg sondern Walter Ulbricht als Vorsteher der DDR. Der Kölner Verleger Joseph Caspar Witsch sprach gar von „Mißbrauch der Freiheit“, der Kritiker Marcel Reich-Ranicki verteidigte das Buch hingegen als „Roman gegen die Diktatur schlechthin“, was man zugleich als Affront gegen die DDR lesen konnte. Am Erfolg des Werks änderte weder das Pro noch das Contra etwas. Mit der Gewinnung von Seghers, die alsbald zur Stammautorin aufstieg, war, wie Elisabeth Borchers sich später erinnern sollte, der „Sprung hinüber in die DDR“ getan.

Die Beziehungen zwischen Luchterhand und den Verhandlungspartnern im Osten waren selten frei von Spannungen und Kontoversen. Ulmers Produktionsgeschichten liefern dafür dicht dokumentiertes und erzähltes Anschauungsmaterial. Lizenzverträge wurden mit dem Aufbau Verlag, mit Volk und Welt, dem Mitteldeutschen Verlag in Halle und Hinstorff in Rostock vereinbart. An Autoren kam eine stattliche Zahl zusammen, darunter Gerti Tetzner (Karen W.), Irmtraut Morgner (Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz), Maxi Wander (Guten Morgen, du Schöne), Helga M. Novak (Ballade von der reisenden Anna), Jurek Becker (Jakob der Lügner), der freilich nicht lange blieb, sondern zu Suhrkamp abwanderte, Christa Wolf (Nachdenken über Christa T.) und Hermann Kant (Das Impressum). An den beiden Letzteren zeigt Ulmer, welche Gratwanderungen nötig waren, um zwei auflagenstarke und prestigeträchtige Repräsentanten unterschiedlicher Couleur im Programm unterzubringen, die eine mit wachsender Distanz zum Regime, ohne ihren Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaftsordnung unter dem Dach eines sich erneuernden Sozialismus abzuschwören, der andere als ein Schriftsteller im Gewand des Multifunktionärs, dem SED-System, das er mit nie versiegender polemischer oder affirmativer Rhetorik bis an die Grenze zur Rabulistik verteidigte, in unverbrüchlicher Treue verbunden.

Der Literaturtransfer von Ost nach West überwog, aber es gab auch den umgekehrten Weg, der indes ungleich schwieriger zu beschreiten war. Dazu gehörten, was relativ einfach zu bewerkstelligen war, das DKP-Mitglied Günter Herburger und der Arbeiterdichter Max von der Grün, aber auch der parteilose, sozialdemokratisch reformistisch eingestellte Peter Härtling, dessen Roman Eine Frau im Aufbau Verlag 1976 mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren an den Start ging. Außerordentlich konfliktbeladen und entsprechend langwierig waren demgegenüber die Bemühungen, Günter Grass in der DDR zu platzieren. Denn dieser hatte selten ein Blatt vor den Mund genommen, wenn es galt, gegen repressive Maßnahmen zu protestieren und, wie Ulmer schreibt, „in den offenen Wunden der ostdeutschen Literaturpolitik“ zu bohren. Erst im Laufe der 1980er-Jahre begann sich hier das Blatt zu wenden; im Rahmen des gegen die Raketenrüstung in Ost und West gerichteten Pazifismus zeichneten sich Gemeinsamkeiten ab, Grass mutierte vom ideologischen Gegner zum nützlichen Partner. Ihn in der DDR zu publizieren, so das Urteil eines der dortigen Literaturfunktionäre, würde die „Souveränität“ der eigenen „Editionstätigkeit“ ebenso befördern wie die „Bündnisfähigkeit mit allen fortschrittlichen Kräften im Kampf für den Frieden“. Die dabei zu Tage tretende ‚Liberalisierung‘ der Veröffentlichungspraxis war jedoch nur die eine Seite der Entwicklung. Die andere hatte eine machtpolitische Dimension, in der sich ein immer deutlicher werdender Kontrollverlust des Regimes offenbarte. Dabei, resümiert Ulmer, spielte je länger desto nachdrücklicher, „das westdeutsche literarische Feld eine entscheidende Rolle, weil hier ein potentieller deutschsprachiger Wirkungsraum für Autorinnen und Autoren der DDR existierte, der (weitgehend) außerhalb des Einflussbereiches der SED lag.“ Diesen geöffnet und trotz mancher Widrigkeiten bis zum Umbruch von 1989 offen gehalten zu haben, war das Verdienst des Luchterhand Verlags, der mit der vorliegenden Studie eine angemessene Würdigung erfährt.

Titelbild

Konstantin Ulmer: VEB Luchterhand? Ein Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben.
Ch. Links Verlag, Berlin 2016.
487 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783861539308

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