Stiefmütterlich behandelte Tristanhandschrift im Fokus

Birgit Zacke begibt sich auf visuelle Spurensuche und folgt Tristan in die „Wildnis“ des Brüsseler Tristans

Von Désirée MangardRSS-Newsfeed neuer Artikel von Désirée Mangard

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Stoff von Tristan und Isolde wurde oftmals verarbeitet und gerade die im deutschen Sprachraum vermutlich bekannteste Version Gottfrieds von Straßburg ist durch zahlreiche Handschriften besonders gut belegt. Eine der jüngsten Niederschriften, die neben Gottfrieds Tristan auch den Tristan als Mönch und teilweise die Tristan-Fortsetzung Ulrichs von Türheim beinhaltet, ist der Brüsseler Tristan, bei dem es sich um ein relativ junges Produkt der Lauberwerkstatt handelt. Diese Handschrift wurde aufgrund ihrer Autorferne in der Forschung recht wenig beachtet, was Birgit Zacke in ihrer Publikation Wie Tristan sich einmal in einer Wildnis verirrte. Bild-Text-Beziehungen im `Brüsseler Tristan‘, die auf ihrer 2013 eingereichten Promotionsschrift basiert, nun zu ändern versucht.

Dabei legt sie den Fokus auf das Zusammenspiel von Bild und Text, was eine systematische Untersuchung der 91 illuminierten Federzeichnungen und insgesamt fast 600 Blätter bedeutet. Zwar waren die Bilder und auch das Verhältnis von Text und Bild bereits früher Gegenstand der Forschung, Zacke versucht sich nun jedoch an einer Gesamtanalyse des Rezeptionsangebotes und der Text-Bild-Verknüpfungen, wobei sie ihre Untersuchungen auf eine Auswahl von etwa 70 Bildern konzentriert.

Ihre weiteren Ausführungen legt die Autorin der Leitthese zugrunde, dass der Brüsseler Tristan durch seine spezifische Kombination von Bild und Text für eine heterogene Rezipientenschicht offenstand beziehungsweise offenstehen sollte. Sie geht somit davon aus, dass die Illuminationen als Narration für den Leseunkundigen – im Sinne eines „liber pauperum“ – dienen sollten, wobei sie das Layout trotzdem als grundsätzlich für eine geschlossene Rezeption konzipiert ansieht.

Zacke gibt selbst an, nach der Methode der Material Philology zu arbeiten, und untersucht die Handschrift nicht auf ihren Wert als Textzeugnis des Tristanstoffes, sondern will einen Erkenntnisgewinn durch Aussagen der Handschrift über ihre Entstehungszeit und das Interesse dieser Zeit am Text erreichen. Sie spricht dabei von „literaturgeschichtlicher Relevanz“ der Handschrift als Zeugnis für die Aktualität des Stoffes im 15. Jahrhundert.

Die Autorin will keine reine Bestandsaufnahme des Manuskripts vornehmen, sondern ihr Interesse gilt der Herausarbeitung der Verschiedenheit der Rezeption, der Frage nach Textnähe beziehungsweise -ferne der Bilder und der Interpretation des Textes durch die Bilder. Sie stellt sich die Fragen: Was findet den Weg ins Bild? Was zeigen die Bilder und wie tun sie dies? Zacke geht dabei von einem Konzept in Bezug auf Auswahl der Szenen, Anordnung der Bilder und Layout aus – ganz im Sinne eines Erzählinteresses. Sie sieht die Bilder als etwas sehr bewusst Gestaltetes an, was in der Interpretation berücksichtigt werden muss, und schreibt ihnen eine Hilfsfunktion zum Rekapitulieren der Geschichten ohne Konsultieren des Textes zu.

Zacke greift unter anderem den Begriff der „Episodizität“ auf und verweist in diesem Zusammenhang auf die Praktikabilität und Rezeptionsfreundlichkeit der Handschrift, was vor allem auch der meist mündlichen Rezeption im Mittelalter geschuldet ist. Charakteristisch für den Brüsseler Tristan ist somit, dass mehrere aufeinanderfolgende Bilder einem Erzählkomplex zuordenbar sind, was sich folglich auch in Motivwiederholungen ausdrückt. Zudem wird ein gesondertes Kapitel der Bild-Deixis gewidmet, worin die Verweisfunktion der Bilder auf den Text durch Gesten und Blicke der dargestellten Figuren herausgearbeitet wird.

Die recht ausführliche Einleitung gibt einen Forschungsüberblick und lässt den Fokus und die Forschungsabsichten von Zacke klar erkennen. Auch der theoretische Hintergrund zur Herangehensweise an die Handschriftenanalyse wird vorgestellt, der sich vor allem auf Bild-Text-Beziehungen und die Wahrnehmung der Komponenten als Einzelteile wie auch als Ganzes konzentriert. In den jeweiligen Unterkapiteln sind zwar leicht unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und die Materie wird von verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, allerdings sind die Ausführungen doch teilweise sehr allgemein gehalten und viele Passagen erweisen sich als (mehrfach) redundant.

Nach der recht langatmigen Einleitung wird es dann mit einer Bestandsaufnahme und damit einer Beschreibung der Handschrift, ihrer Materialität, Gliederung und Textstruktur wesentlich konkreter. Doch auch hier stößt man bald wieder auf bereits Bekanntes und schon zuvor ausführlich Erwähntes.

Nach einer kurzen Vorstellung der einzelnen Protagonisten und ihrer typischen Darstellungsweise folgt eine Aufarbeitung thematischer Art, wobei die Darstellungen gemäß ihrem Bildinhalt in Gruppen zusammengefasst und nicht in erster Linie chronologisch behandelt werden.

Im ersten Kapitel des Hauptteils geht es beispielsweise um „Zentrale Bildmotive“ (unter anderem Motive im Zusammenhang mit Schifffahrten und dem Themenkomplex Heimlichkeit/Nicht-Öffentlichkeit). Während die meisten Bilder dieses Kapitels eher in Hinblick auf die sich teilweise entsprechenden Personendarstellungen und andere mehr verglichen werden, kommt der Bezug der jeweiligen Bilder zum Text etwas kurz. In diesem Kontext wird natürlich auch das Geschehen rund um den Minnetrank behandelt – unter anderem auch zwei aufeinanderfolgende Bilder, deren Analyse und In-Beziehung-Setzen untereinander sowie mit dem Text sehr gelungen und gut nachvollziehbar ist. Dies hängt sicher damit zusammen, dass hier gerade das Verdeutlichen des Bezugs und der Relation zwischen Text und Bild eher möglich ist, weil die Bilder nicht durch eine reine Motivgruppenzuordnung vollkommen aus ihrem Textzusammenhang herausgerissen, sondern immer noch in gewisser Weise chronologisch eingebettet sind, wodurch sie als eine Art Abfolgeeinheit analysiert werden können.

Die Ausführungen sind zwar allesamt gut nachvollziehbar und informativ, durch die Schwerpunktsetzungen, die sich in Folge der Gruppierungen automatisch ergeben, führt die Analyse jedoch oft weg vom eigentlich proklamierten Fokus der Arbeit, nämlich den Bild-Text-Beziehungen. Der Text tritt hier eindeutig in den Hintergrund, während die Bilder und ihre Beziehung untereinander viel mehr im Vordergrund stehen.

Gerade die von Zacke immer wieder eingeforderte Betrachtung der Handschrift als Ganzes wird durch diese von der Autorin vorgenommenen Gruppierungen zeitweise etwas erschwert. Auch wegen des eingeführten Begriffs der Episodizität und der Betonung der ohnehin in der Handschrift vorgegebenen Gliederung der Bilder in geschlossene Sequenzen ist eine Einteilung in künstlich gebildete Gruppen nicht immer ganz nachvollziehbar.

Besonders in den Kapiteln, die nicht nur vom Bildmotiv her eine Einheit bilden, sondern über weite Strecken auch eine chronologische, gewinnt die Analyse Zackes gerade in Hinblick auf die Leitthese der Publikation an Wert. Dies lässt sich sicherlich dadurch erklären, dass die hier behandelten Bilder schon in der Handschrift als zusammengehörige Episode vorkommen und sich deswegen für die Anwendung der Forschungsfrage besser eignen sowie ein Close-Reading-Verfahren eher durchführbar ist. Dies macht sich bereits bei den zwei aufeinanderfolgenden Bildern rund um den Minnetrank in der Schifffahrts-Gruppe bemerkbar, wird aber beispielsweise noch deutlicher bei einigen aufeinanderfolgenden Bildern in der Gruppe „Ritterlicher Zweikampf“ und den Illuminationen zu den Themenkomplexen „Brautwerbung“ und „Das Paar“ oder auch „Klage, Trauer und Stiftung von Memoria“, weil die zwischen den Bildern liegenden Textpassagen ganz problemlos und selbstverständlich in die Analyse miteinbezogen werden (können) – dies schlägt sich nicht zuletzt auch in der Quantität und Qualität der Ausführungen nieder.

Den verirrten Tristan beziehungsweise das Bild, auf das im Publikationstitel auf den ersten Blick angespielt wird, sucht man leider vergeblich, da sich der Titel lediglich auf einen Teil des Titulus des 19. Kapitels der Handschrift bezieht und nicht auf eine Illumination. Ebenfalls ein kleiner Wermutstropfen könnte für den Leser sein, dass die Bildbezeichnungen nicht durchgängig einheitlich sind und man im Verzeichnis und den Abbildungsunterschriften in Einzelfällen auf unterschiedliche Versionen oder Formulierungen stößt.

Positiv hervorgehoben werden muss in jedem Fall, dass es sich durchgehend um Farbabbildungen handelt, schade ist jedoch das kleine Format, was dazu führt, dass Details nur bedingt zu erkennen sind. Dies ist in besonderem Maße zu bedauern, weil der Fokus der Arbeit eindeutig auf den Bild-Text-Beziehungen liegt und sich der Leser nur begrenzt einen Eindruck von den besprochenen Bildern und dazugehörigen Textabschnitten machen kann.

Zwar wird die Publikation vom Verlag als für Sprachwissenschaftler und Kunsthistoriker gleichermaßen interessant beworben, bei genauer Betrachtung wird aber deutlich, dass dieses Buch trotz des fachübergreifenden Untersuchungsgegenstandes einen eindeutig germanistischen Schwerpunkt aufweist. Somit darf man sich keine kunsthistorisch bahnbrechende Analyse erwarten, dennoch lohnt sich unter Umständen auch für Kunsthistoriker ein Blick über den Tellerrand hinaus auf Zackes Ausführungen und könnte zumindest ein Anstoß für eine weitere, explizit kunsthistorische Beschäftigung mit der Handschrift sein.

Auch wenn man am Anfang das Gefühl hat, sich wie Tristan ein wenig in einer Wildnis bestehend aus Theorie, Tristanstoff, Forschungsgeschichte, Bildern und Texten zu verirren und immer wieder an der gleichen Stelle vorbeizukommen scheint, so lichtet sich der Wald doch nach und nach. Der Pfad wird immer erkennbarer und gut ausgebaut, bis man sich schließlich in einem gut strukturierten Wegenetz wiederfindet, in dem man sich in den Brüsseler Tristan, seine Illustrationen sowie deren Beziehungen zum und mit dem Text etappenweise vertiefen kann und zum Schluss über eine insgesamt doch gelungene Reise durch diese oft unterschätzte Handschrift zufrieden ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Birgit Zacke: Wie Tristan sich einmal in eine Wildnis verirrte. Bild-Text-Beziehungen im ‚Brüsseler Tristan‘.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2016.
316 Seiten, 79,80 EUR.
ISBN-13: 9783503166527

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