„Distant Reading“, aus der Nähe betrachtet
Zu Franco Morettis überschätzter Aufsatzsammlung
Von Dieter Lamping
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1.
Franco Morettis vielgelobte Aufsatzsammlung „Distant Reading“ stellt den Leser gleich vor eine grundsätzliche Frage: Wie soll man ein Buch lesen, das eine bestimmte Art des Lesens propagiert? Auf diese Art? Interessanterweise empfiehlt der Verfasser das jedoch nicht. Nicht nur bedeutet er dem geneigten Leser, dass er die Aufsätze, die alle schon veröffentlicht sind, für wert erachtet, noch einmal gelesen zu werden. Er stellt jedem von ihnen auch einen Kommentar voran, der zum genauen Lesen auffordert. Franco Moretti legt mit einem Wort ein ‚close reading‘ für „Distant Reading“ nahe.
Eine solche Aufmerksamkeit ist üblicherweise Beiträgen vorbehalten, die – mit einem Lieblingswort Morettis – kanonisch geworden sind. Seine Aufsätze sind allerdings kaum mehr als Vor-, Neben- und Nacharbeiten, auch wenn Ihr Ehrgeiz groß ist. „Ich hatte das Gefühl, dass die Literaturgeschichte von Grund auf neu geschrieben werden könnte“, bemerkt Moretti etwa rückblickend zu seinem Aufsatz „Die Schlachtbank der Literatur“. Das Gefühl hat man bei der Lektüre nicht. Es ist auch nicht viel aus dem Vorhaben einer ‚von Grund auf’ neuen Literaturgeschichte geworden. Gern spricht Moretti von ‚Experimenten’, die er durchführt, doch Experimente können natürlich scheitern. Seine tun es in der Tat, und zwar so gründlich, dass sie Gelegenheit bieten, einige Irrwege gegenwärtiger Literaturwissenschaft zu besichtigen.
2.
Trotz seiner Vorliebe für Karten und Strukturbäume, für Zahlenmaterial und allerlei Listen bemüht Moretti sich immer wieder, unterhaltsam zu schreiben, irgendwie flott und locker – mit einem Wort: unakademisch. Natürlich ist dieser unakademische Stil inzwischen selbst akademisch geworden, vor allem in den USA. Um vorherzusagen, dass er sich auch hierzulande ausbreiten wird, muss man kein Prophet sein. Denn die stilistischen Register und wissenschaftlichen Textsorten, zwischen denen Moretti sich bewegt, sind auch im alten Europa längst Mode, etwa der fußnotenarme Essay oder die eher kolloquiale Erläuterung einer Power-Point-Präsentation, die als Aufsatz veröffentlicht wird („Nächste Karte: Komödien“).
Bezeichnend für Morettis Stil ist der Gestus entschiedener Knappheit, der suggeriert, man hätte alles schon unbezweifelbar bewiesen (nicht zuletzt durch Graphiken). Ihm verdanken sich Floskeln wie: „Es führt kein Weg daran vorbei“, „Jessica Brant hatte Recht. Punkt.“ – oder auch ein einfaches „Und so weiter“. Differenzierung erstarrt dabei zu Formeln: „Das Neue? Ja und nein“ oder „Für Kritik? Ja und nein“. Zumindest überraschend ist auch, dass Moretti gelegentlich Fragen aufwirft, die er sogleich als unerheblich abweist: „Wo nimmt der europäische Roman seinen Anfang? Wer weiß, wen kümmert das?“
So kurz wird der Leser des öfteren beschieden. Das mag im Gespräch angehen; auf dem Papier verrät es nicht eben eine Lust an der wissenschaftlichen Diskussion. Wenn Moretti ein ganzes Programm – sein Programm – entwickelt, liest sich das so: „Formale Entscheidungen, die versuchen, die Konkurrenz zu ‚verdrängen‘. Kunstgriffe – auf dem Markt: Darum geht es hier. Formalismus und Literaturgeschichte“. Also Stichworte. Nicht Gedanken zum Mit- und Nachdenken.
Aufschlussreich ist auch, wie Moretti seine „Meinung“ über seine „Interpretationsmethode“ kundgibt – die natürlich für seinen Gegenstand „besonders geeignet“ ist. Die Diskussion bricht er ab, bevor sie richtig begonnen hat: „Leider muß ich jedoch an diesem Punkt aufhören, weil meine Kompetenz aufhört“. Das ist für einen Wissenschaftler ein bemerkenswerter Satz. Sollen wir aus ihm den Schluss ziehen, dass Moretti nicht ‚kompetent‘ sei, seine eigene Methode zu diskutieren? Oder möchte er nur alle lästigen kritischen Fragen rhetorisch abwimmeln?
Gern greift Moretti „kognitive Metaphern“ wie Baum, Busch, Welle und Netzwerk auf, mit denen jeweils theoretische Konzepte verbunden sind. Nicht selten jagt dabei jedoch eine Metapher – und eine Theorie – die andere, vermutlich weil es letztlich auf keine ankommt: „Wir sollten die Metapher eines kontinentalen Relais aufgeben“, schreibt er, und soweit können wir ihm noch zustimmen, „weil sie zwar anzeigt, wie die Fackel der Erfindung von Hand zu Hand weitergereicht wird, dabei aber immer eine Fackel bleibt“. Kann es sein, dass Franco Moretti gar nicht ‚Relais‘ meint, wenn er ‚Relais‘ sagt?
Tatsächlich wechselt er die Metaphern, noch bevor sie ‚kognitive‘ Ergebnisse zeitigen können, so etwa in seiner Charakterisierung des europäischen Romans: „Wie eine Art literarische Bahntrasse knüpft er (d.i. der Roman, D.L.) ein Netzwerk, das das ganze Land in seinem ganzen Umfang abzudecken vermag“. Kann es sein, dass Franco Moretti auch nicht ‚Bahntrasse‘ meint, wenn er ‚Bahntrasse‘ sagt? Moretti sollte in der Tat nicht nur eine Metapher aufgeben.
Dass er das tut, ist allerdings nicht anzunehmen. Denn die Metapher ist für ihn mehr als eine rhetorische Figur. Der Grundzug seiner Arbeiten ist die Übertragung. Theoriemodelle anderer Wissenschaften, vor allem der Sozial- und Naturwissenschaften und besonders wiederum der Biologie und der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, wendet er auf die Literatur an, in einer mitunter atemberaubenden Geschwindigkeit. Das ist längst methodologisch kritisiert worden, und in „Distant Reading“ antwortet Moretti auf eine der einlässlichsten Kritiken, die von Christopher Prendergast, ausführlich. Seine ‚Theorieimporte’ – wie man das, was er tut, heutzutage nennt – werden vollends problematisch, wenn man ihre Ergebnisse betrachtet, vor allem, sofern sie sich auf ‚Weltliteratur‘ beziehen.
3.
Wenn es in den Essays und Aufsätzen Morettis eine Entwicklung gibt, dann liegt sie in der Ausweitung seines Untersuchungsgegenstands von der europäischen Literatur auf das, was er Weltliteratur nennt. Das Paradigma dafür ist der Roman. Versuchte Moretti zunächst die Entwicklung des europäischen Romans mit einem (kultur-)geographischen Raum-, dann mit einem literarisch gewendeten Evolutionsmodell zu erfassen, das (Struktur-)Bäume wachsen lässt, ging er anschließend dazu über, auf die Weltliteratur die ‚Weltsystemtheorie‘ Immanuel Wallersteins anzuwenden. Dabei übernimmt er insbesondere das dreiteilige Modell von Zentrum, Semiperipherie und Peripherie und den Gedanken einer Welthierarchie. Als Zentrum wird die europäische Literatur begriffen, die „Einfluss“, ja „Druck“ auf die außereuropäischen ausübt. Morettis Ehrgeiz besteht wesentlich darin, Gesichtspunkte der literarischen Form in dieses Modell zu integrieren. Sein wichtigster Gedanke dazu besagt, dass außereuropäische Literaturen, wenn sie sich auf die hegemoniale europäische ‚zubewegen‘, dies „immer in Gestalt eines Kompromisses zwischen ausländischer Form und einheimischen Stoffen“ tun.
Es spricht einiges dafür, dass die wichtigsten Annahmen Morettis falsch sind. Auf der Hand liegt das in seinem ehrgeizigen Aufsatz „Die Schlachtbank der Literatur“, dessen zentrale These lautet: „Der Markt bestimmt (…) den Kanon“. Moretti dient diese These nicht zuletzt dazu, einige Witze auf Kosten von Professoren zu machen, die glauben, einen Kanon festlegen zu können. „Professoren für englische Literatur“, schreibt er genüsslich, „konnten mit der Lyrik machen, was sie wollten, weil es keine Rolle spielte“. Seine eigene Argumentation lässt allerdings erkennen, dass er nicht auf der Höhe der Diskussion ist und offenbar nicht einmal das Kapitel „Klassik“ in Ernst Robert Curtius’ Standardwerk „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ gelesen hat, auf das er sich an anderer Stelle nachdrücklich beruft. Möglicherweise ist es dem ‚distant reading‘ zum Opfer gefallen.
Morettis Orientierung an ökonomischer Theorie führt letztlich dazu, dass er kanonische Werke nicht von prominenten unterscheiden kann und Bestseller – wie die Romane von Arthur Conan Doyle – mit Klassikern verwechselt. In der Regel werden Klassiker tatsächlich gut verkauft – fast wie Beststeller –, aber deswegen sind sie noch keine Klassiker. Sie werden vielmehr gut verkauft, weil sie Klassiker sind. Dass sie das sind, ist jedoch nicht in ihrem Marktwert begründet.
Morettis Gedanken kreisen immer wieder um ‚Weltliteratur‘, über die er gern „Mutmaßungen“ anstellt. Morettis Verständnis von Weltliteratur hat eine für die amerikanische Komparatistik typische Wandlung durchgemacht. Zunächst begriff er sie vor allem als internationalen Kanon, dann teils extensiv als ‚Literatur der Welt‘, also als die Gesamtheit der Nationalliteraturen, teils mit einem distributiven Akzent als weltweit verbreitete Literatur. Die Anwendung der ‚Weltsystemtheorie‘ zielt vor allem auf solche ‚Weltliteratur‘. Auch davon verspricht Moretti sich wieder viel:
Obwohl es den Ausdruck „Weltliteratur“ seit fast zwei Jahrhunderten gibt, verfügen wir noch nicht über eine echte Theorie des – wie lose auch immer definierten – Gegenstands, auf den er sich bezieht. Wir haben keinen Begriffsapparat, keine Hypothesen, die Ordnung in die riesige Datenmenge bringen könnten, die die Weltliteratur darstellt. Wir wissen nicht, was Weltliteratur ist.
Was immer Moretti unter einer ‚echten Theorie‘ versteht – über Weltliteratur wissen ‚wir’ erheblich mehr, als er berücksichtigt. Nicht nur Goethes kommunikatives Verständnis von Weltliteratur als einer internationalen Arbeitsgemeinschaft von Autoren scheint Moretti letztlich unbekannt zu sein. Auch ein intertextuelles Konzept spielt in seinen Überlegungen keine Rolle. Damit entgeht ihm die wohl wichtigste Funktion von Weltliteratur: ihr Beitrag zur literarischen Traditionsbildung. Von ihr her stellt sich gerade das Problem des Kanons anders dar als aus der Perspektive einer Marktanalyse.
Moretti ist stattdessen fixiert auf die Gesetzmäßigkeiten der Ausbreitung bestimmter Literatur über die Welt, die er ihrer globalen Distribution wegen schon als Weltliteratur klassifiziert. Er folgt dabei letztlich dem Verständnis, das Marx und Engels von Weltliteratur hatten: als einer Literatur, die im Zuge des expandierenden Kapitalismus für einen Weltmarkt produziert wird. Unbestreitbar gibt es solche Literatur – jede Bestsellerliste informiert Woche für Woche über sie –, und ihre Verbreitung ist in der Tat wesentlich ein Marktphänomen. Wenn Moretti sich ihm zuwendet, unterläuft ihm jedoch ein kategorialer Fehler: Er verwechselt Literatur mit Literaturbetrieb und Buchmarkt.
Das ist allerdings nur der eine kognitive Schaden, den die Anwendung der ‚Weltsystemtheorie‘ auf die Weltliteratur verursacht. Der andere liegt in der Annahme hegemonialen Ungleichgewichts zwischen Zentrum und Peripherie. Die Formel mag für die Untersuchung der Unterschiede innerhalb der internationalen Wirtschaft fruchtbar sein; für die Beschreibung der Literatur und der literarischen Kommunikation taugt sie nicht viel. Bei ihrer Anwendung kommt Moretti zu einer These, die ähnlich schon Itamar Even-Zohar aufgestellt hat:
Mächtige Literaturen aus dem Kern „greifen“ ständig in den Entwicklungsverlauf der peripheren Literaturen „ein“ (wohingegen das Gegenteil kaum passiert) und vergrößern so die Ungleichheit des Systems ständig.
Offensichtlich falsch ist nicht nur die Behauptung, die ‚Einflüsse‘ gingen immer von der Seite der ‚mächtigen Literaturen‘ aus. Für das Gegenteil gibt es unzählige Beispiele; das bekannteste ist der inzwischen sprichwörtlich gewordene Orientalismus in der europäischen Literatur.
Am ‚Kern‘ der Sache vollends vorbei geht der Glaube an ‚mächtige Literaturen‘. Auch ihm liegt ein kategorialer Fehler zugrunde: die Annahme, dass eine große Wirkung auf großer Macht beruht, wie wir es aus Wirtschaft und Politik kennen. Literatur besitzt aber keine der ökonomischen oder politischen vergleichbare Macht, schon gar keine Sanktions-Macht, aufgrund derer sie ‚Druck‘ ausüben könnte. Sie verfügt allein über die ‚Macht‘, von ihrem Wert zu überzeugen, und zwar durch ihre bloße Existenz. Wenn ein Werk als große Kunst erkannt und anerkannt wird und Leser, zumal solche, die selbst wieder Autoren sind, sich mit ihm verbinden, über sprachliche, historische und kulturelle Grenzen hinweg, entsteht Weltliteratur.
Dieser Prozess der Kommunikation und Rezeption, der tatsächlich einer der Auswahl ist, gründet sich auf ästhetische Urteile. Er schafft Unterschiede in der Bewertung von Werken, aber keine sozialen Hierarchien oder gar Hegemonien. Die können allenfalls durch Kultur- und Literaturpolitik oder eben durch Wirtschaftspolitik zustande kommen, deren Objekt natürlich auch die Literatur werden kann. Gleichwohl gehört sie grundsätzlich einem anderen Bereich an, der mit Hannah Arendts Ausdruck, der traditioneller scheint, als er ist, zum „Leben des Geistes“ zählt. Die Weltliteratur und die Welt der Literatur ‚funktionieren’ – um einen anderen von Moretti bevorzugten Ausdruck zu verwenden – anders als die Welt der Wirtschaft, zu der u.a. der Literaturbetrieb gehört. Damit hängt auch zusammen – ohne dass es an dieser Stelle vertieft werden müsste –, dass Morettis Formel „Weltliteratur: Eins und ungleich“ gleichfalls falsch ist: sofern sie eine systemartige Einheit annimmt. Seine Unterscheidung von ‚erster‘ und ‚zweiter‘ Weltliteratur, die auf das Problem von „Diversifikation“ und „Gleichförmigkeit“ zielt, hebt diesen Fehler nicht auf.
4.
Bei all dem erübrigt es sich schon fast, von Morettis vielzitiertem und vielgelobtem Konzept des ‚distant reading’ zu sprechen. Wenn er es erläutert als „ein Lesen aus der Entfernung, wobei Entfernung, das sei hier wiederholt, eine Bedingung der Erkenntnis ist“, so ist damit alles gesagt: Die falschen Ergebnisse verdanken sich eben auch einer falschen Art des Lesens. Ohnehin drängt sich der Verdacht auf, dass der Ausdruck oft nur ein Euphemismus ist. Unverblümt erklärt Moretti: „Wir wissen, wie man Texte liest, jetzt sollten wir lernen, wie man nicht liest“. Er führt das auch vor, aber wohl unbeabsichtigt. Über das Paris des 19. Jahrhunderts schreibt Moretti etwa an einer Stelle, die Baudelaire und Hugo entfernt paraphrasiert:
Nur in einer janusköpfigen Stadt konnte dieses in sich gedoppelte „lächerliche und erhabene“ Gebilde aus schonungsloser Zeitgenossenschaft und trotziger Klassizität das Licht der Welt erblicken; wo „schädliche Dämonen träge in der Luft erwachen, wie Leute, die an ihr Geschäft sich machen“, ein buckliger Glöckner wie Phönix aus der Asche steigt und ein brachliegendes Gelände am Stadtrand zur Ebene von Troja wird. ‚Neue Paläste, Gerüste, Steinblöcke, alte Vorstädte, alles wird mir zur Allegorie…“
Offenbar vergisst auch Moretti, ‚sich an sein Geschäft zu machen‘ und Baudelaires Gedicht „Le Cygne“, um das es sich hier offenbar handelt, zu lesen. Ist das die Perspektive der Literaturwissenschaft: dass sie zu einer Wissenschaft von der Literatur wird, die sie nicht gelesen hat und eben nur aus „‚zweiter Hand‘“ kennt oder zu kennen meint – „ohne eine einzige direkte Textlektüre (reading)“?
Interessant mag ohnehin weniger das theoretisch dürftige Konzept des ‚distant reading’ selbst als seine Karriere sein: der Aufstieg eines allenfalls witzigen Einfalls zu einem gefeierten Programm, dessen entlastende Wirkung allerdings auf der Hand liegt. Was Morettis Art zu lesen von der herkömmlichen literaturwissenschaftlichen unterscheidet, ist offensichtlich: Nicht der einzelne Text interessiert ihn, sondern möglichst große Mengen von Texten, die er alle nicht mehr selbst lesen kann. Er zielt dabei auf „Datensätze“: ein – wen auch immer – imponierendes literarisches Big Data. Gerechtfertigt wird das mit der Absicht, möglichst weitreichende Aussagen über literarische Systeme zu machen, deren Existenz allerdings nicht bewiesen, sondern nur angenommen wird.
Es versteht sich fast von selber, dass für ein solches Datensammeln das gute alte, gründliche, aber leider langsame Lesen hinderlich ist. Moretti verabschiedet, ähnlich wie Jonathan Culler, den er zustimmend zitiert, mit der Interpretation auch die Hermeneutik und mit ihr wiederum das verstehende Lesen. An seine Stelle tritt bestenfalls ein ‚Durchkämmen‘, ein Überfliegen und Querlesen, meist aber wohl nur die ‚Auswertung’ der Lektüre anderer, etwa der wiederholt erwähnten ‚Forschungsassistenten‘. Dass Literaturgeschichte, aber auch Literaturtheorie so „ein Patchwork aus anderer Leute Forschung“ wird, mag noch nicht einmal so schwer wiegen wie der Umstand, dass die Ergebnisse der ‚Forschung‘ nicht mehr überprüft werden (können) durch eigene Lektüre. Damit begibt sich die Wissenschaft allerdings ihres wichtigsten Prinzips: der Kritik.
Moretti treibt nicht zuletzt der Ehrgeiz um, Formalismus und Marxismus miteinander zu versöhnen – ein nicht eben neues und früher bereits gescheitertes Unterfangen. Die Erbschaft des Formalismus, die Moretti antreten möchte, besteht wesentlich in der Auffassung des technischen Charakters literarischer Werke als eines Ensembles von Kunstgriffen. Sie erlaubt es ihm, einen literarischen Text als Ansammlung von Daten zu behandeln, die man aus ihm herausziehen und in Reihen stellen kann, die eine Theorie vorgibt. Dass die Theorie dabei ihres empirischen Charakters verlustig geht und nur noch eine unhintergehbare, dogmatische Voraussetzung ist, die durch die Anwendung tautologisch bestätigt wird, sei nur am Rand erwähnt.
5.
Der stärkste Eindruck, der von der Lektüre bleibt, ist der, dass Morettis ‚distant reading‘, einmal als Kürzel für eine Theorie und eine Methode genommen, die Literatur grundsätzlich verfehlt. Die Ursache dafür scheint in einer theoretischen Ungeduld zu liegen. Nicht willens, sich auf Texte einzulassen, gibt Moretti sich mit den bereitliegenden, aber trivialen Lösungen zufrieden, die vor allem der Formalismus und der neomarxistische Materialismus anbieten. Der langsamere und mühevollere Weg grundständiger theoretischer Arbeit ist ihm versperrt. So folgt ein ambitioniertes Projekt – oder genauer: seine Ankündigung – auf das andere, ohne dass die Voraussetzungen zunächst einmal durchdacht würden.
Morettis größter Irrtum mag sein, dass er offenbar glaubt, die Literaturwissenschaft könne ihre Theorien nicht selbst aus dem Studium der Literatur gewinnen, sondern müsste sie von außen heranschaffen, von Leit-Wissenschaften, denen sie sich auf diese Weise ‚anschließt‘. Was zweifellos als Belebung der Literaturwissenschaft gedacht ist, kann allerdings leicht wie deren Selbstabschaffung aussehen – schon weil dabei die wichtigste Fähigkeit verloren geht, die zur literaturwissenschaftlichen Arbeit gehört: die Fähigkeit, genau zu lesen und das Gelesene zu bedenken. Solche Selbstaufgabe mag ein aufschlussreicher Vorgang im Wissenschaftsbetrieb sein, doch ist zu hoffen, dass er nicht an sein Ziel gelangt – und nur ein weiteres Experiment sein wird, das scheitert.
Ist Morettis Buch zu empfehlen? Ja: für ein ‚distant reading‘.
Anmerkung der Redaktion: Gleichzeitig mit dieser Rezension von Dieter Lamping veröffentlichen wir eine weitere von Jörg Schuster mit zum Teil konträren Einschätzungen. Beide Rezensionen sind ohne gegenseitige Kenntnis entstanden. Unsere Leserinnen und Leser sind herzlich eingeladen, sich an einer Debatte darüber zu beteiligen. T.A.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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