Comeback der Philologie?

In seiner nun ins Deutsche übersetzten Essaysammlung „Distant Reading“ entwirft Franco Moretti eine literaturgeschichtliche Methodologie für das digitale Zeitalter

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gespenst geht um in der Literaturwissenschaft – das Gespenst des Distant Reading. Unheimlich wirkt dieser neue methodologische Ansatz, weil es sich bei ihm nicht um einen jener akademischen ‚turns‘ handelt, die in schöner Regelmäßigkeit neue Perspektiven eröffnen, aber auch schnell wieder vergehen. Spukhaft erinnert er uns vielmehr an Verdrängtes, an die philologischen Kernbereiche Formanalyse und Literaturgeschichte. Plötzlich scheint es wieder legitim und sogar innovativ, nicht nur immer neue Wissensbereiche zu erschließen, sondern Philologie zu betreiben. Methodologische Grundsatzdiskussionen um den ‚richtigen Umgang‘ mit Texten, wie sie einst ebenso erbittert wie produktiv zwischen Hermeneutikern, Strukturalisten und Poststrukturalisten ausgetragen wurden, gewinnen auf einmal wieder an Bedeutung, da die digitale Revolution massenhaft Daten sowie neuartige Erschließungs- und Suchfunktionen bereitstellt, die uns die fundamentale Frage des Herangehens an Texte neu stellen lässt.

Einer der wenigen, die diesem aktuellen Theorie-Bedarf entgegenkommen, ist der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Franco Moretti, dessen methodologische Überlegungen einsetzten, lange bevor die Digital Humanities Konjunktur hatten. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass Morettis Essaysammlung Distant Reading nun in einer deutschen Ausgabe vorliegt – in einer Übersetzung, die wissenschaftlich akkurat ist und zugleich den lebendigen, virtuos Volten schlagenden Stil dieser Wissenschaftsprosa adäquat wiedergibt. Der Auseinandersetzung mit Morettis Theorieangeboten wird diese Ausgabe förderlich sein, und sie ist auch dringend nötig. Denn zum einen beruft sich fast jeder, der unter dem Etikett Digital Humanities ein mehr oder weniger stringent definiertes Korpus quantitativ analysiert und seine Ergebnisse in Form von Karten oder Stammbäumen visualisiert, wie simplifizierend auch immer, auf Moretti. Zum anderen weist sein Konzept durchaus Schwachpunkte und Angriffsflächen auf, die zur produktiven Auseinandersetzung herausfordern.

Versammelt sind in dem 2013 auf Englisch erschienenen Band zehn seit 1991 verfasste Aufsätze. Sie werden von Moretti jeweils mit einem kurzen Vorspann eingeleitet, der die Entstehung der einzelnen Beiträge beleuchtet und sie ins Gesamtprojekt einordnet. Auf diese Weise wird der tentative, dynamische Charakter dieses Theorieansatzes deutlich; Moretti gesteht immer wieder Irrtümer ein und setzt sich mit den Argumenten seiner Kritiker auseinander – ein wohltuendes Beispiel intellektueller Debattenkultur!

Bereits der erste Essay „Moderne europäische Literatur: Eine geographische Skizze“ offenbart die für Moretti typischen Stärken und Schwächen zwischen „abstrakter Modellbildung und lebendigen Einzelbeispielen“. Souverän skizziert er, wo in Europa sich wann und warum welche innovativen literarischen Formen herausbildeten und wie sie sich im Rahmen geographischer Übertragungsprozesse morphologisch veränderten. Das führt zu luziden und griffigen Thesen wie der folgenden: „Unschön, aber wahr: Der Imperialismus spielt für die Moderne dieselbe Rolle wie die Französische Revolution für den realistischen Roman“. Oder, ebenfalls im Hinblick auf die Moderne: „Der Bruch mit der Vergangenheit war erfolgreich, daran besteht kein Zweifel. Vielleicht zu erfolgreich, wie so viele andere europäische Versuche?“

Allerdings steckt bei solchen Generalisierungen, absehbarer Weise, der Teufel im Detail. Dass Moretti etwa ausgerechnet Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien den „Verzicht auf jegliche Verführung durch Evokation“ attestiert, zeugt von einem ungenauen und unkritischen Blick. Die Wahrscheinlichkeit von Fehlurteilen steigt eben, wenn man Texte nicht selbst liest, sondern programmatisch „ein Patchwork aus anderer Leute Forschung“ herstellt. Literaturgeschichtliche Zusammenhänge können so zwar auf plastische Weise verständlich gemacht werden; die Frage ist nur, ob dadurch nicht traditionelle Forschungsklischees in einem neuen, kartographischen Gewand präsentiert werden. Vor allem aber irritiert bereits in diesem Essay ein für Moretti zentrales Denkmuster, die Orientierung an der Evolutionstheorie. Die für Kanonisierungs- und Wertungsprozesse konstitutiven komplexen, von unterschiedlichsten Institutionen wie Verlagen, Kritikern, Schulen und Universitäten abhängigen Mechanismen ignoriert er schlicht, indem er dem Glauben folgt, die formal ‚beste Lösung‘ setze sich, gut darwinistisch, nun eben mal durch. Was das genau heißt und für welchen Leserkreis es gilt, erklärt uns Moretti nicht.

In den folgenden Essays „Mutmaßungen über Weltliteratur“ und „Die Schlachtbank der Literatur“ spitzt Moretti sein Untersuchungsprogramm in dem Sinne zu, dass er sich von kanonischen Texten abwendet und einen „quantitativen Formalismus“, eine „vergleichende Morphologie“ praktiziert, die herkömmliche literaturgeschichtliche Konstruktionen in Frage zu stellen vermag. Moretti geht es um das paradoxe Modell eines „Formalismus ohne close reading“, um die Untersuchung kleinster Einheiten wie einzelner Motive oder Erzähltechniken an einer möglichst großen Zahl von Texten, um etwa die historische Transformation literarischer Genres beschreiben zu können. Genau an diesem Punkt wird der faszinierend gespenstische Charakter des neuen literaturgeschichtlichen Ansatzes deutlich. Er wendet sich jenen 99,5 Prozent der literarischen Texte zu, die ungelesen in Bibliotheken und Archiven vermodern, während die zum Kanon erhobenen 0,5 Prozent wieder und wieder interpretiert werden. Tatsächlich gehört es zu den Merkwürdigkeiten der literaturwissenschaftlichen Zunft, dass sie andauernd über ihre Legitimationskrise spricht und ihre disziplinären Grenzen ständig erweitert, zugleich aber große Teile ihres eigenen Gegenstands, der Literatur, nicht einmal eines Blicks aus der Ferne würdigt. Diese Frage stellt sich im Zeitalter der digitalen Revolution, die massenhaft auch ‚vergessene‘ Texte leicht verfügbar und auswertbar macht, neu; nur hat die Literaturwissenschaft diese medialen Veränderungen bislang weitgehend ignoriert.

Hier wartet Moretti mit ebenso einfachen wie wegweisenden Überlegungen auf. An die Stelle der fortwährenden Neuinterpretation einiger weniger kanonisierter Texte, an denen sich die jeweils modischen Methodendesigns erproben können, tritt ein anderes Untersuchungsinteresse: Es geht darum, wie Moretti in „Der Roman: Geschichte und Theorie“ formuliert, die ‚richtigen Fragen‘ nicht an einen Text, sondern ans Archiv und also: an die Kultur zu stellen – ein Blickwechsel, der umso produktiver ist, als er ein immenses Potential für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sich bringt. Skizziert ist damit eine Literaturgeschichte, die sich zum einen als mikroskopisch genaue Historiographie formaler Verfahren versteht, über deren Entstehung wir, wie Moretti zurecht feststellt, „verblüffend (…) wenig (…) wissen“. Sie wird zum anderen mit literatursoziologischen Fragen verbunden, indem Moretti nach der Karriere, dem quantitativen Erfolg bestimmter literarischer Formen fragt. Ihm gelingt damit das Kunststück, literaturgeschichtliche Probleme konsequent als formalästhetische zu fassen, und das auf eine Weise, die mit innovativer Kraft auf die Evidenz quantitativer Untersuchungen vertraut. Auf beeindruckende Weise werden damit Grundfragen der Literaturwissenschaft auf eine neue Weise gestellt.

Ob die quantitative Herangehensweise immer überzeugt, steht freilich auf einem anderen Blatt. Subtil sind die – anhand eines relativ übersichtlichen Untersuchungsgegenstands – in „Style Inc.“ angestellten Überlegungen darüber, wie und warum sich die Wortanzahl von Romanüberschriften um 1800 ändert. Inwiefern die quantitative Analyse von Dramen- und Romanhandlungen mittels visualisierter Netzwerke dagegen einen wirklichen Erkenntnisgewinn gegenüber einer qualitativen Untersuchung darstellt, vermag der Essay „Netzwerktheorie, Handlungsanalyse“ nicht gänzlich überzeugend zu demonstrieren. Wichtiger ist aber ein grundsätzlicher Einwand, den Moretti in „Die Schlachtbank der Literatur“ selbst formuliert: Die Literaturgeschichte soll umgeschrieben werden, indem die Transformation literarischer Genres anhand einer möglichst großen Menge nicht-kanonisierter Werke analysiert wird. Die Fragestellungen, die an diese umfassende Menge von Texten herangetragen werden, wurden aber an dem weniger als einem Prozent kanonisierter und genau gelesener Werke entwickelt – ein Zirkel, der die Literaturwissenschaft um potentielle innovative Fragestellungen bringt.

Die ‚richtigen Fragen‘ ans Archiv sind nicht unbedingt die traditionellen Fragen der Forschung, die nun lediglich mit dem Blick aus der Ferne an ein größeres Textkorpus gestellt werden. Um zu adäquaten Fragestellungen zu gelangen, wird man auch künftig nicht umhin kommen, nach dem Prinzip „Erst finden, dann suchen“ einzelne Texte aus der Nähe zu betrachten. In welcher Form sich close und distant reading auf innovative Weise ergänzen können, dürfte zu den entscheidenden Fragen der Literaturwissenschaft im digitalen Zeitalter gehören. Die Diskussion darüber hat gerade erst begonnen.

Anmerkung der Redaktion: Gleichzeitig mit dieser Rezension von Jörg Schuster veröffentlichen wir eine weitere von Dieter Lamping mit zum Teil konträren Einschätzungen. Beide Rezensionen sind ohne gegenseitige Kenntnis entstanden. Unsere Leserinnen und Leser sind herzlich eingeladen, sich an einer Debatte darüber zu beteiligen. T.A.

Titelbild

Franco Moretti: Distant Reading.
Übersetzt aus dem Englischen von Christine Pries.
Konstanz University Press, Konstanz 2016.
225 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530762

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