Paris! Jetzt!

Eine geistreiche Anthologie über die Stadt der Städte

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der Verleger Lojze Wieser auf seine Buchreihe Europa erlesen stolz ist, kann man verstehen. Gut 200 schön aufgemachte, handliche Bücher sind in den letzten beiden Jahrzehnten erschienen, und sie erschließen dem willigen Leser den Kontinent – von Albanien bis Zürich. Unlängst ist ein Band über die Stadt der Städte dazugekommen. „We’ll always have Paris“, möchte man mit Humphrey Bogart sagen, und nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 hinzufügen: „Gerade jetzt!“. Fast jeder, der schon einmal dort gewesen ist, glaubt ja, die Stadt an der Seine zu kennen. Nach der Lektüre dieser Anthologie muss man das Wörtchen „glaubt“ betonen. Denn sie versammelt doch eine ganze Menge von Texten, die auch dem Paris-Kenner Neues zu bieten haben.

Anthologien sind immer ein gefundenes Fressen für Kritiker. An nichts anderem kann man so schön herumnörgeln: Warum ist der drin und jener nicht? Zu wenig Frauen! Und weshalb kriegt diese Autorin fünf Seiten und die nur zwei? Wieso sind auch sehr bekannte Texte enthalten und nicht ganz andere? Für solches Herumnörgeln eignet sich natürlich auch Paris ganz ausgezeichnet. Aber lassen wir das und halten lieber fest, dass der Herausgeber das Flair der französischen Hauptstadt durch seine kluge und anregende Zusammenstellung auf’s Interessanteste zu veranschaulichen vermag. Paris erscheint hier weniger als unübersehbare Mega-Metropole der Moderne, sondern, ohne Verklärung und Kitsch, als ein heute noch inspirierender Ort der Künste, als Ort aufregender Literatur, Malerei, Bildhauerei und Musik. Von François Villon bis Peter Handke versammelt das Bändchen mehr als 50 reizvolle Paris-Texte. Diderot und Voltaire, Victor Hugo, Charles Baudelaire, Guillaume Apollinaire, Julien Green, Paul Valéry oder Heinrich Heine – das konnte man natürlich erwarten. Anaïs Nin und Henry Miller waren nicht zu umgehen, Ernest Hemingway auch nicht. Rainer Maria Rilke, Oskar Panizza, Harry Graf Kessler, Walter Mehring, Alfred Polgar, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Paul Celan, Rose Ausländer, Georg Stefan Troller, Paul Nizon, H.C. Artmann und Wolf Wondratschek vertreten die deutschsprachige Literatur, und das Gedicht Kaminfeuer in Paris von Wolf Biermann wurde ebenfalls aufgenommen. Gertrude Stein oder Simone de Beauvoir dürfen nicht fehlen, und sogar der alte Goethe ist dabei, der die Stadt bekanntlich nie mit eigenen Augen gesehen hat. Das einstige Montmartre-Viertel mit seinen Künstlern und Dirnen wird ähnlich lebendig wie die revolutionäre Besetzung des Odéon-Theaters im Mai 1968, und selbstverständlich kommt die Liebe nicht zu kurz und der Tod auch nicht. „Solang Paris bestehen bleibt, wird es mir nicht an einem Zufluchtsort fehlen, wo ich meinen Geist aushauchen kann – dergestalt, dass ich keinem anderen nachtraure“, schrieb Michel de Montaigne. Darüber darf man auch heute noch nachdenken.

Titelbild

Joachim Dennhardt (Hg.): Europa Erlesen – Paris.
Wieser Verlag, Klagenfurt / Celovec 2015.
216 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783990291368

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