Der Einkaufszettelsammler

Im Thrillerdebüt „Walt“ des Kanadiers Russell Wangersky blickt man auf die Welt mit den Augen eines Stalkers

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie andere Briefmarken, sammelt Walt Einkaufszettel. Weil er als Reinigungskraft in einem Supermarkt arbeitet, ist es ein Leichtes für ihn, an die über ihre Verfasser viel verratenden kleinen Merklisten heranzukommen. Den Einkauf erledigt, werfen die meisten Kunden ihre Zettelchen  in den Papierkorb gleich hinter der Kasse. Und hier angelt Walt sie heraus, möglichst dann, wenn er noch einen Blick auf die Person werfen kann, die die jeweilige Liste geschrieben hat.

Russell Wangerskys Thriller Walt spielt da, wo der Autor selbst heute wohnt: in Nordamerikas ältester Stadt St. John’s, Hauptstadt der kanadischen Provinz Neufundland und Labrador. Hier schreibt Wangersky seit Jahren für die Tageszeitung „The Telegram“ und wurde mit mehrfach ausgezeichneten Sachbüchern und Erzählungen einem größeren Publikum bekannt. Walt ist sein erster Versuch auf dem Gebiet der Spannungsliteratur. Und mit dem merkwürdigen Mann mittleren Alters, der sich dem Leser in der distanzlosen Ich-Form mitteilt, ist ihm auf Anhieb eine Figur gelungen, hinter deren Durchschnittlichkeit man von Anfang an Böses ahnt. 

Seitdem seine Frau Mary vor Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden ist, besteht der einzige Kontakt, den Walt noch zu Menschen hat, darin, dass ihm sein Job die Gelegenheit bietet, sich über die weggeworfenen Einkaufszettel in die hinter den Listen steckenden Leben hineinzufantasieren. Darin freilich hat er im Laufe der Jahre eine wahre Meisterschaft entwickelt. Ob ein Mann oder eine Frau hinter dem jeweiligen Zettel steckt – ein Blick genügt und Walt ist sich sicher. Scharf arbeitet sein Verstand auch, wenn es darum geht, aus den notierten Einkaufswünschen Rückschlüsse zu ziehen auf Seelenlage, Beziehungsstatus oder Finanzkraft des jeweiligen Kunden. Und manchmal geben eine aufgedruckte Adresse oder eine mit privaten Informationen aufwartende Zettelrückseite mehr über den Schreiber preis, als diesem wirklich lieb sein kann.

Allein Wangerskys Held belässt es nicht dabei, sich spielerisch anhand einiger Anhaltspunkte in fremde Biografien hineinzudenken. Hat er erst einmal begonnen, sich für jemanden zu interessieren, überschreitet er schnell weitere Grenzen, um demjenigen näherzukommen. Recherchen in den sozialen Netzwerken, in denen viele Menschen völlig freiwillig Einblicke in oft höchst Privates geben, Beschatten der Person, Auskundschaften von Adressen, Gewohnheiten, Freizeitverhalten, Arbeitsorten und -zeiten sowie Kontakten – Walt tut alles, was den Straftatbestand des Stalkings erfüllt. Wenn er dann gar noch in der Abwesenheit seiner Opfer in deren Wohnungen eindringt, sich Nachschlüssel machen lässt, Dinge verrückt oder gar die zum Haus gehörende Katze mit Futter versorgt, wird er nach und nach zu einer Gefahr für alle, denen er auf diese Weise nachstellt.    

Der Polizei ist Walt im Übrigen kein Unbekannter mehr. Seit er seine Frau Mary einst als vermisst meldete, finden in regelmäßigen Abständen Hausdurchsuchungen bei ihm statt. Dann regt sich der 50-Jährige nicht weiter auf, verschwindet für ein paar Stunden aus seinem Zuhause und bringt wieder Ordnung ins Chaos, wenn er am Abend zurückkehrt. Zwei Polizisten aus dem RNC (Royal Newfoundland Constabulary) in St. John’s haben Walt ganz speziell im Visier. Inspektor Dean Hill und sein Mitarbeiter Sergeant Scoville arbeiten erst seit Kurzem zusammen und gehen alten, ungelösten Fällen nach. Nach kleinen Erfolgen, die sie in der Öffentlichkeit bekannt machten, vermuten sie, dass Walt nicht nur am Verschwinden seiner eigenen Frau die Schuld trägt. Aber wie soll man das dem stoisch alles über sich ergehen lassenden, stillen Mann beweisen?

Eine junge Frau bringt schließlich Bewegung in die Sache. Die 25-jährige Alisha Monaghan, Walts aktuelles Opfer, meldet sich bei der Polizei, weil sie das Gefühl hat, dass ein Fremder mehrmals während ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung war. Schon seit Längerem fühlt sie sich beobachtet, hat allerdings lange Zeit keinen konkreten Verdacht. Erst nach ein paar Monaten taucht Walt als derjenige in ihrem Tagebuch auf, von dem sie vermutet, dass er sie stalkt. Weil sie aber gerade eine Beziehung beendet hat und drauf und dran ist, eine Stelle als Englischlehrerin an einer Privatschule in Mexiko anzutreten, verfolgt sie die Geschichte letzten Endes nicht mit aller Konsequenz.

Tagebucheintragungen einer jungen Frau, Meldungen aus dem Polizeialltag in einer mittelgroßen kanadischen Stadt und die Monologe der Hauptfigur, jeweils eingeleitet von einem der vielen von Walt im Lauf der Zeit gesammelten Einkaufszettel – Russell Wangersky hat seinen Roman geschickt aus unterschiedlichen Textsorten zusammengesetzt.         

Herausgekommen ist dabei nicht der ganz große Wurf, aber das beängstigende Psychogramm eines Mannes, der, aus sämtlichen sozialen Netzen herausgefallen, auf krankhafte Weise Beziehungen zu simulieren sucht. Ob Walt auch ein seit Langem gesuchter Mörder ist, hält das Buch, das seine Leser die Dinge die meiste Zeit aus der naiven Sicht seiner Hauptfigur sehen lässt, allerdings bis zum Schluss offen.

Titelbild

Russell Wangersky: Walt. Psychothriller.
Übersetzt aus dem Englischen von Frauke Czwikla.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2016.
303 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783426517420

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