Zwischen Früh- und Spätwerk
Zwei neue Bände der Max-Brod-Auswahlausgabe sind erschienen
Von Martin Ingenfeld
1884 in Prag geboren, starb Max Brod 1968 im Alter von 84 Jahren in Tel Aviv. Als Entdecker und Förderer zahlreicher Autoren, namentlich natürlich Franz Kafkas, als dessen Nachlassverwalter und Herausgeber er fungierte, ist er noch heute bekannt. Dass Brod zu Lebzeiten auch selbst als überaus produktiver Schriftsteller und Publizist aktiv war – sein Erfolg dabei darf als eine Voraussetzung seiner literaturvermittelnden Tätigkeit gelten –, ist darüber freilich etwas in den Hintergrund gerückt. Seit dem Jahr 2013 erscheint nun allerdings im Göttinger Wallstein Verlag eine von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann federführend herausgegebene Auswahlausgabe von Werken Max Brods, die zumindest die Grundlage für eine wieder verstärkte Brod-Rezeption bereitet und auf die an dieser Stelle bereits des Öfteren hingewiesen wurde, so zum Beispiel zu Romanen wie Tycho Brahes Weg zu Gott, Arnold Beer und Die Frau nach der man sich sehnt oder zu Brods Buch über das Prager Tagblatt.
In diesem Zusammenhang ist nun einerseits ein Band mit lyrischen und dramatischen Werken Brods erschienen. Als „geborener Erzähler“ (Schalom Ben-Chorin) kaum in diesen Gattungen reüssiert, geben Ingeborg Fiala-Fürst und Klaus Völker mit ihrer Auswahl einen breiten Überblick über Brods lyrisches und dramatisches Werk. Das Buch der Liebe – diesen Titel entleiht sich der vorliegende Band einem 1921 im Kurt Wolff Verlag veröffentlichten Gedichtband Brods, einem von seinen insgesamt fünf Lyrikbänden, von denen nur einer in die Phase des Spätwerks fällt. Nun werden diese Gedichte in sechs thematischen Gruppen ediert und neu vorgestellt, beginnend mit vom Expressionismus und dem von Brod so genannten Indifferentismus geprägten Texten bis hin zu späteren Arbeiten, die sich dem Judentum widmen. Die drei Dramen Erlöserin, Die Höhe des Gefühls und Lord Byron kommt aus der Mode entstammen gleichfalls dieser früheren Werkperiode, entstanden zwischen 1913 und 1929, und folgen im zweiten Teil des Buches. Beide Teile sind von den Herausgebern dabei mit literatur- und theaterwissenschaftlich kundigen Einleitungen versehen.
Der Band Der Prager Kreis andererseits bildet, wenn man so will, Max Brods eigenen Beitrag zu einer Literaturgeschichtsschreibung der deutschsprachigen Literatur Prags, in der er als Autor selbst eine Hauptrolle übernehmen darf. Denn Gravitationszentrum und materiellen Schwerpunkt des Buches bildet ebenjener Prager Kreis deutschsprachiger Schriftsteller, der sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts um Brod selbst sowie um Franz Kafka, Oskar Baum, Felix Weltsch und Ludwig Winder gruppierte. Einige Jahrzehnte später, 1966, prägt Brod, seit langem in Tel Aviv lebend, so nicht nur das Wort vom „Prager Kreis“ – als letzter Überlebender aus der genannten Gruppe – , sondern er erfindet gleichsam eine ganze Episode deutschsprachiger Literaturgeschichte. In konzentrischen Bahnen, wie um einen Fixstern angeordnet, gruppiert er um diesen Kreis im Mittelpunkt weitere Autorengenerationen – und zu allen weiß er persönliche Bezüge anzubringen: Wo er diese und jene Autoren lesen oder auch kennengelernt habe, welche ästhetischen oder politischen Debatten er mit ihnen geführt, welche Briefe er ihnen geschrieben habe, was jeweils aus ihnen geworden sei.
Im „Ahnensaal“ finden sich Marie von Ebner-Eschenbach und Karl Postl alias Charles Sealsfield. Des Weiteren stellt Brod seinen Lesern mehrere Generationen an Vorläufern des Prager Kreises vor, in denen sich dann etwa Fritz Mauthner und Auguste Hauschner finden, Hugo Salus und Friedrich Adler, oder auch Paul Leppin, Oskar Wiener, der junge Rainer Maria Rilke und Gustav Meyrink. All diese Namen bedeuten aber nur ein Vorspiel für den Höhepunkt, ein langes Kapitel über den ,engeren‘ Prager Kreis – um die bereits genannten Namen – und ein kürzeres über den ,weiteren‘, zu welchem der engere Kreis in Beziehung gestanden habe, zu Franz Werfel und Friedrich Torberg etwa, zu dezidiert zionistischen Autoren oder zu Gruppen um die großen deutschsprachigen Zeitungen in Prag.
Brod ist hier wie in seinem Element, aus reichem Wissen, reicher Kenntnis und reichen Beziehungen schöpfend, durchaus nicht zurückhaltend im Urteilen. Sein Rückblick ist so entschieden subjektiv gefärbt, unzweideutig wertend und in hohem Grade von der eigenen Rolle überzeugt. Er zeigt sich in seinen Kontakten zu zahlreichen Autoren in einer Tätigkeit, in der er als Autorität der Kafka-Vermittlung und -Deutung gewissermaßen sein Meisterstück abliefern sollte. Dazu trägt das Buch über den Prager Kreis auch selbst einiges bei. Andreas Kilcher kam dementsrechend unlängst in der „NZZ“ auf die präzise Feststellung: „Der Autor hat keine wie auch immer objektivierende Distanz zu seinem Gegenstand, sein Essay folglich nicht den Charakter eines sachlichen literaturgeschichtlichen Textes.“
Das in Rechnung stellend, darf man Brods Auseinandersetzung mit der verlorenen Prager Welt gleichwohl als autobiografisches Werk ernst nehmen, und man darf es in Bezug setzen zur fortdauernden literarischen Wirksamkeit des Prager Kreises, vor allem natürlich im Hinblick auf Franz Kafka, als dessen Freund und autoritativer Interpret Brod sich hier inszeniert. Wie auch in seinen zahlreichen anderen Erinnerungs- und Deutungsbeiträgen zu Kafka sucht er in dem vorliegenden Buch – etwa zwei Jahre vor seinem Tod – noch einmal seine Interpretation gegen die der berufsmäßigen „Kafkologen“ als gültige zu setzen. Notwendigkeit dazu bestehe, denn, wie Brod bemerkt, „man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß es keinen Dichter gibt, der zu Lebzeiten bei so wenigen Beachtung gefunden hat […] und über den nach seinem frühen Tode eine solche Flut von verständnislosem Schrifttum niedergegangen ist.“
Andererseits aber verteidigt Brod nicht zuletzt sich selbst und seinen Prager Kreis gegen aus seiner Sicht verständnislose Interpreten wie etwa Peter Demetz – der dem Band für die Suhrkamp-Edition von 1979 ein Vorwort verleihen sollte, das nun ebenfalls neu abgedruckt wurde –, der gemeint habe, der Prager Kreis sei ein isoliertes Phänomen gewesen, dem es als „Stadtliteratur“ an „Kommunikation mit der Natur“ ermangelt hätte. Im Falle der lesenswerten Neuedition des Bandes ist es nun Steffen Höhne, der es unternimmt, Brods Großessay über den Prager Kreis als „Erfindung des Prager Kreises“ seinerseits literaturwissenschaftlich zu historisieren. Publizistische Gegenwehr des Erfinders ist nun allerdings nicht mehr zu erwarten.
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