In den Fußfesseln der Vergangenheit

Sergej Lebedew zeichnet in „Menschen im August“ ein beklemmendes Bild vom postsowjetischen Russland

Von Katharina BelikovRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Belikov

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Menschen im August“ ist ein Familienroman, ein historischer Krimi und ein Politthriller. Vor allem aber handelt es sich um einen Zustandsbericht der Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, den der Journalist und Schriftsteller Sergej Lebedew in seinem dritten Buch verfasst. Ein Bericht, der die Nachwirkungen einer bedrückenden Vergangenheit, eines oppressiven Regimes und deren immer noch andauernde Präsenz im neu geformten Russland aufzeigt. Eine Geschichte, die hinter das bleierne Schweigen zu blicken versucht, nur um zu erfahren, dass dieses Schweigen fortdauert und dessen Auflösung gefährlich und unerwünscht ist. Auf der Suche nach dem Verschwiegenen, dem Versteckten und dem Verdrängten entsteht ein Bild des neuen Russlands, das nicht bereit ist, sich neu zu definieren, das, nach einer kurzen Phase der Unsicherheit, zurückkehrt zu einer leicht abgeänderten, doch altbekannten Form der Unterdrückung und Kontrolle.

Nachdem der Ich-Erzähler auf verborgene Tagebücher seiner Großmutter gestoßen ist und aus diesen über den bis dato unbekannten Großvater erfährt, begibt er sich auf die Suche nach ihm. Diese Suche führt ihn durch die Landstriche der zerfallenen Sowjetunion, durch ehemalige Teilrepubliken, die mit ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Geheimnissen durchzogen sind. Dabei erfährt er, dass der Versuch, das freiwillig oder erzwungen Vergessene wieder ans Licht zu bringen, auch nach dem Zerfall der UdSSR nicht gerne gesehen wird.

Lebedew skizziert in seinem Roman den postsowjetischen Menschen, der driftet, der sich aus eingebildeter Mystik und Zufallsbekanntschaften einen Lebenssinn konstruiert und nach Erfüllung und Bestätigung sucht. Ein emotional abgestumpfter Mensch, so durchdrungen von der sowjetischen Vergangenheit, dass ihn weder Korruption noch der kriminelle Untergrund, noch die Rückkehr alter Regimesystematiken erschrecken oder verunsichern. Ein Mensch, der sich fügt und wieder schweigt oder, wie im Falle des Erzählers, untergeht.

Jedoch entsteht beim Lesen das Gefühl der Autor hatte zu viele Szenarien im Kopf, die er unbedingt in seinem Buch abarbeiten wollte, das Tagebuch der Großmutter, ein ehemaliges Straflager in der Taiga, Tschetschenien im ersten Krieg mit dem neuen Russland und einige mehr. Doch schafft es Lebedew nicht, eine glaubhafte Verbindung zwischen all diesen Orten und Szenarien zu erzeugen. Die Taten und Gedanken des Protagonisten und Erzählers scheinen zu erzwungen, seine Entscheidungen und Handlungen zu konstruiert und es wird sogar nicht vor einem mystischen, abergläubischen Moment zurückgeschreckt, um die Logik des Handlungsverlaufs zu erklären. Der namenlose Ich-Erzähler schreitet unberührt durch den Roman. Nichts kommt wirklich an ihn heran, er weiß mehr als andere, ihm gelingt so gut wie alles und wenn auch Augenblicke der Verwirrung oder Furcht aufkommen, schafft er es umgehend sich über diese zu stellen. So überzeugt der Erzähler als Bindeglied des Romankonstrukts nicht.

„Menschen im August“ ist zuerst 2015 in deutscher Übersetzung erschienen, da russische Verlage dieses Buch als zu heikel ansahen. Zu heikel war dies wohl nicht nur aufgrund der Auseinandersetzung mit dem politischen Chaos nach dem Zerfall der UdSSR und der Bilanz, dass sich keine wirkliche Veränderung vollzogen hat, sondern auch wegen der Darstellung des postsowjetischen Menschen – also einem Spiegelbild ihrer selbst –, der weiterhin anstandslos das Schweigen und Wegschauen als Notwendigkeiten des Alltags praktiziert. Doch alleine die Tatsache, dass dem Buch die Erstveröffentlichung in Russland verwehrt wurde – mittlerweile ist der Roman in Russland erschienen – zeigt, dass Lebedews Darstellung dieses Landes eine erschreckend realistische ist.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sergej Lebedew: Menschen im August. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Franziska Zwerg.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
368 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100425119

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