Verschiedene Zugänge zum Gedicht

Lyrik-Einführungen von Dieter Burdorf, Dirk von Petersdorff und Gunter E. Grimm

Von Jürgen GuniaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Gunia

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Markt literaturwissenschaftlicher Einführungen ist in den letzten Jahren zunehmend unübersichtlich geworden. Zuverlässiger Indikator dafür, ob es eine Einführung geschafft hat, seine (meist studentische) Leserschaft zu erreichen, ist die Auflagenzahl. Folgt man dieser Logik, so hat sich im Bereich Lyrik unter anderem Dieter Burdorfs Einführung in die Gedichtanalyse durchgesetzt, erscheint diese doch mittlerweile in der dritten Auflage. Auf den zweiten Blick aber ist merkwürdig, warum nahezu 20 Jahre bis zur Neuauflage verstreichen mussten: Die erste Auflage ist 1994 erschienen, die zweite bereits 1997. Hält man die Werke jedoch in der Hand, ja legt man die zweite Auflage daneben, kann man unschwer Gründe erahnen: Die Einführung ist umfassend überarbeitet worden. Und sie hat einen Ableger in Gestalt einer Geschichte der deutschen Lyrik bekommen.

Die Einführung in die Gedichtanalyse wie auch die neue Geschichte der deutschen Lyrik erscheinen beide als Lehrbuch im Verlag J.B. Metzler. (Die Auflagen der Gedichtanalyse dagegen waren noch Teil der Reihe Sammlung Metzler.) Ihr Design ist folglich identisch: Großformatig und bunt, warten sie auf mit zahlreichen Zwischenüberschriften, blau hervorgehobenen Stichworten („Spitzmarken“) und Randglossen. Absätze zur „Vertiefung“ sind grau unterlegt, „Interpretationsbeispiele“ hellblau. Ein zeitgemäßes Layout, das sich unschwer als Produkt eines Zeitalters zu erkennen gibt, das geprägt ist von Hypertextualität und gestuften Studiengängen. Und warum auch nicht, zumal der Vorteil auf der Hand liegt: Das Layout ermöglicht die lineare und die nicht-lineare Lektüre gleichermaßen und verwandelt beide Bücher mitsamt ihrer ausführlichen Personen- und Sachregister in ergiebige Nachschlagewerke. Wer weiter lesen und forschen will, dem stellt der Anhang beider Bücher zudem ausführliche Bibliografien zur Verfügung.

Im Vergleich zur zweiten Auflage sind in der Einführung in die Gedichtanalyse jetzt nicht nur intensivere Blicke auf einzelne Gedichte und zahlreiche Abbildungen (vor allem im Kapitel über „graphische Ausdrucksformen“) hinzugekommen, sondern auch Kurzreferate über neuere Positionen der Lyrikforschung oder über die in den letzten Jahren wiederentdeckte Kategorie der „Stimmung“, die Burdorf gemeinsam mit anderen „problematischen Kategorien“ wie „Erlebnis“ und „lyrisches Ich“ differenziert und ohne Polemik abhandelt. Ansonsten wird das für eine Einführung in die Analyse von Gedichten Obligatorische und Erwartbare vorgestellt: Um das „Gedicht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ geht es, und natürlich um metrische Grundformen, um Bildlichkeit und editionsphilologische Aspekte, aber auch um die analytische Relevanz von „Zeit und Raum“.

Kurzum: eine kenntnisreiche, gut geschriebene und absolut empfehlenswerte Einführung, an der es nicht viel auszusetzen gibt, höchstens ein gewisser Konservatismus. Dieser zeigt sich etwa darin, dass ein strukturalistisches Beschreibungsmodell wie Jürgen Links einflussreiches Konzept des Gedichtes als „überstrukturierter Text“ gar nicht erst erwähnt wird – wahrscheinlich, weil in diesem Konzept die sprachliche Selbstreferenz zu sehr betont wird, wohingegen Burdorf voraussetzt, dass sich Gedichte bei aller sprachlichen „Künstlichkeit“ auf „außersprachliche Realitäten“ beziehen. Roman Jakobsons berühmter Begriff der „poetischen Funktion“ wird kurzerhand mithilfe späterer Ergänzungen Jakobsons als „subjektivistisch“ verabschiedet, was skurril anmutet, da bei Burdorf selbst das Subjekt wieder erstarkt, sei es in seinem merkwürdigen Insistieren auf der „Autorintention“, sei es im von ihm vorgeschlagenen Begriff des „Textsubjekts“, den er im Kapitel über die „Personalität im Gedicht“ entwirft. Dieses Konstrukt, das angelehnt ist an das des „abstrakten Autors“, hat unter anderen deshalb für Diskussionen gesorgt, weil Burdorf darin einen semantischen Kohärenz- und damit Sinngaranten sieht. Zugleich möchte er mit dem „Textsubjekt“ – und mit dem Begriff des „artikulierten Ichs“ – endlich die ebenso unverwüstliche wie unterkomplexe Rede vom „lyrischen Ich“ verabschieden. Gerade diese insgesamt instruktiven Ausführungen über die „Personalität im Gedicht“ bleiben jedoch auf halbem Wege stecken. So kritisiert Burdorf zu Recht die von Peter Hühn und Jörg Schönert propagierte narratologische Analyse von Lyrik, ohne dass er selbst die Flucht nach vorn antritt. Beispielsweise versäumt er die nahegelegene und längst fällige Integration erzähltheoretischer Aspekte wie Fokalisierung oder auch Präsentation von Figurenrede in die Gedichtanalyse und verschenkt somit innovatives Potenzial.

Als weiteres Manko könnte man der Einführung attestieren, dass sie die literarhistorische Dimension zu sehr vernachlässigt. Diesem Einwand jedoch haben Burdorf und sein Verlag durch die zeitgleich publizierte Geschichte der deutschen Lyrik vorgebeugt. Ein geschickter strategischer Coup, der wahrscheinlich aufgehen wird, zumal das Konzept stimmig ist und in der Gedichtanalyse für die Geschichte und in der Geschichte für die Gedichtanalyse geworben wird. (Für KäuferInnen vielleicht schwer nachvollziehbar ist die Preisdifferenz: Obwohl umfangreicher, kostet die Gedichtanalyse ganze fünf Euro weniger!) Auch in diesem Abriss zeigt sich Burdorf als versierter wissenschaftlicher Autor. Das gerade einmal 170 Druckseiten umfassende Büchlein ist einerseits als „nützliche Ergänzung“ (Burdorf) zur Gedichtanalyse zu verstehen. Andererseits funktioniert es in seinem kompakten Überblickscharakter autonom, auch wenn Abschnitte wie die obligatorischen „Zusammenfassungen“ am Ende eines Kapitels zu sehr Resultat eines Systemzwangs sind und deshalb inhaltlich nicht immer sinnvoll gefüllt werden können. Sympathisch ist dagegen, dass in den auch hier beigegebenen Interpretationsbeispielen einmal nicht die üblichen Verdächtigen, sondern eher nicht kanonisierte Titel herangezogen werden, also etwa Anna Louisa Karschs Ode An Herrn Gleim oder Hugo von Hofmannsthals Ghaselen.

Interpretationsbeispiele finden sich in der Gedichtanalyse wie in der Geschichte. Meist handelt es sich dabei lediglich um die einfache Anwendung literarhistorischen Wissens oder um vereinzelte analytische Bemerkungen. Dass es sich keineswegs (immer) um „Interpretationen“ handelt, liegt auf der Hand. Hinzu kommt, dass dafür häufig eine halbe Seite zur Verfügung steht und längere Gedichte deshalb bruchstückhaft wiedergegeben werden. „Interpretationen“ aber, die diese Bezeichnung verdienen, setzen eine bestimmte Vollständigkeit und Ausführlichkeit voraus. Ein etwas zurückhaltender Terminus wie „Interpretationshinweise“ hätte den Texten im blauen Feld sicherlich besser zu Gesicht gestanden.

Eine noch schmalere einbändige Geschichte der deutschen Lyrik als Burdorf hat 2008 der Lyriker und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff veröffentlicht. Ähnlich wie Burdorf legt dieser nun nach, nur in umgekehrter Reihenfolge und gewissermaßen aus entgegengesetzter Perspektive: In seinem bei Reclam erschienen Band Wie schreibe ich ein Gedicht? geht er lyrische Gebilde aus der Sicht des „kreativen Schreibens“ an. Das Buch wendet sich an ein entsprechend großes Publikum (an „alle“, wie es in der Einleitung heißt). Systematisch zugänglich und stilistisch unverkrampft entfaltet Petersdorff sein Sujet, vom Vers bis zu Satzbau und Wortmaterial. Jedes der insgesamt elf Kapitel enthält zudem Arbeitsaufgaben, die Interessierten die Möglichkeit geben, sich dem Schreiben eines Gedichts aus unterschiedlichen Richtungen zu nähern. Didaktisch originell ist die Verwendung von Kontrasten: So etwa, wenn er so unterschiedliche Gedichte wie die von Thomas Kling und Robert Gernhardt nebeneinander stellt, um auf diese Weise drastisch „harte“ und „glatte“ Fügung zu veranschaulichen. Das Buch dient nebenbei dazu, angehenden LyrikerInnen und LyrikleserInnen von der gelegentlich immer noch auftretenden Auffassung zu befreien, wonach lyrische Rede authentischer Gefühlsausdruck sei. „Literatur“, schreibt Petersdorff lakonisch, „ist immer auch Handwerk, das eingeübt werden muss“, auch wenn freilich unabdingar sei, dass man „etwas zu sagen“ habe. Ein schönes Beispiel für das handwerkliche Verständnis dieser filigranen Kunst ist das letzte Kapitel mit dem Titel „Variation“, in dem Petersdorff die Genese von Gedichten am Beispiel Bertolt Brechts aus der alltäglich-profanen Form der Liste erörtert. So einfach können Verse entstehen!

Mit Gunter E. Grimms Band Zwischentöne. Stationen der deutschen Lyrik hat neben dem amtierenden Hochschullehrer (Burdorf) und dem Dichter-Wissenschaftler (Petersdorff) ein dritter Autorentyp seinen Auftritt im Reigen neuer Einführungen: der des emeritierten Professors. Ein Typus, der in den letzten Jahren in besonderer Weise mit Lyrik-Büchern wie Verskunst (Volker Klotz, 2011), Geistersprache (Heinz Schlaffer, 2012) oder Der Blumengarten (Wulf Segebrecht, 2015) von sich reden machte. Beeindruckende Titel, die aus einem unerschöpflichen Wissens- und Erfahrungsreichtum schöpfen und diesen mit großer Leidenschaft weitergeben. Titel, welche zudem die Vermutung aufkommen lassen, dass für diese Autoren nach den literaturfeindlichen Strapazen ihrer Dienstzeit (Gutachtenproduktion, Gremienarbeit et cetera) nun endlich die Zeit für diejenige Literaturgattung gekommen ist, die ihnen wirklich am Herzen liegt. Zumal es sich um eine Gattung handelt, der nachgesagt wird, dass sie in besonderer Weise Zeit und Muße für die angemessene Wahrnehmung ihrer „unverwechselbaren sprachlichen Gestalt“ (Grimm) benötigt.

Zwischentöne ist jedoch keine neu geschriebene Monografie. Die meisten der 16 Kapitel stellen Konzentrate von Aufsätzen dar, die in den Jahren von 1984 bis 2012 zu unterschiedlichen Anlässen entstanden sind. Dennoch erweist sich Grimm mit diesem Band als ‚Nachleger‘ wie Burdorf und Petersdorff: Bereits 2012 brachte er eine Lyrik-Anthologie mit dem Titel Herzworte heraus. Nach den Gedichten (und Kurzporträts) nun also der Diskurs. Grimm präsentiert sich in seinen Aufsätzen als klassischer Literarhistoriker: belesen, scharfsinnig, gelehrt. Vom Barock bis zur Moderne – man kann aus diesem Buch ganz zweifellos eine Menge lernen. Es gibt sich dabei eher als Kompendium von Momentaufnahmen („Stationen“) und nicht als Überblick. Aus diesem Grund zielt die Auswahl von Autoren (Andreas Gryphius, Johann Wolfgang von Goethe und Hans Magnus Enzensberger spielen eine große Rolle) und Themen („Duisburger Promotionsgedichte“, „Italiengedichte“) auf eher spezielle Interessengebiete. Außerdem kommen Epochen wie Romantik oder Realismus nur indirekt vor. Der Band schließt mit einem Beitrag darüber, wie Dichter ihre Gedichte sprechen.

Auffallend ist der Schreibstil Grimms, der sich, wie der seiner emeritierten Kollegen, nahezu frei von Deformationen postmoderner Wissenschaftssprache präsentiert. Das hat durchaus seine Ambivalenzen. Wenn er zu Sarah Kirschs Gedichtsammlung Rückenwind (1977) lakonisch bemerkt: „Bewusste Verrätselungen sind nicht selten“, möchte man frohlocken angesichts der in aller Kürze zelebrierten Jargonfreiheit. Auf der anderen Seite entwickelt dieser Stil seine eigenen Verkrampfungen. Das Wort „Intertextualität“, dessen Verwendung gerade für eine literar- und rezeptionshistorische Kapazität wie Grimm eine Selbstverständlichkeit darstellen müsste, scheint er geradezu zu scheuen. Stattdessen trifft man allenfalls auf „Nachklänge“. Schließlich irritiert der Titel Zwischentöne (er stammt von Franz Josef Degenhardt). Mit diesem ist, wie erwähnt, der Anspruch verbunden, Gedichte als ästhetische Gebilde wahrzunehmen. Genau dafür ist leider selten Raum in Grimms Einlassungen. Seine Gelehrsamkeit funktioniert über weite Teile hinweg wie eine Kontextualisierungsmaschine, aus deren Schnurren man Beachtliches heraushören kann, nur eben nicht die ein der Einleitung seines Buches angekündigten „Nuancen, Abstufungen, feinen Übergänge“. Die kann man allenfalls vernehmen, wenn man die Gedichte selbst liest, beispielsweise, indem man zu Grimms Anthologie greift.

Titelbild

Dirk von Petersdorff: Wie schreibe ich ein Gedicht? Kreatives Schreiben: Lyrik.
Reclam Verlag, Stuttgart 2013.
167 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783150202944

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Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse.
3. aktualisierte und erweiterte Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2015.
293 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022271

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Titelbild

Dieter Burdorf: Geschichte der deutschen Lyrik. Einführung und Interpretationen.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2015.
175 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783476026194

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Titelbild

Gunter E. Grimm: Zwischentöne. Stationen der deutschen Lyrik ; vom Barock bis zur Gegenwart.
Tectum Verlag, Marburg 2015.
250 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783828834873

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