Themen der Vorstadt
Caroline Merkel widmet sich in „Produktive Peripherien“ literarischen Identitäts- und Vergangenheits-Konstruktionen im gesichts- und geschichtslosen Raum der Wohnsiedlungen
Von Nora Schmidt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Produktive Peripherien versteht Caroline Merkel die Vorstadt als „semantischen Raum“ und als „Indikator für Produktivität und Kreativität“. Sie analysiert britische, schwedische und – aus Gründen der Vergleichbarkeit – westdeutsche Gegenwartsliteratur, widmet sich also gerade nicht den (post)sozialistischen Städten. Trotz dieses innovativen Fokus auf neueste Literatur nimmt sie sich einleitend den Raum, um das globale Phänomen der Vorstadt seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu resümieren. Caroline Merkel beleuchtet die Utopien der Moderne und die sie begleitenden Diskurse der ersten Jahrhunderthälfte, um sie mit der Kritik an ihrer Umsetzung und den damit entstehenden Ängsten und Bildern zu kontrastieren. Anhand der ausgewählten, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachteten Romane, fragt sie dagegen nach den Themen, die sich im literarisch konfigurierten Raum „Vorstadt“ zeigen.
Der umfangreiche, aber pointierte theoretische Überblick weist die Studie sowohl als soziologisch wie auch architekturgeschichtlich informiert aus. Hinzu kommt eine zweite, literaturwissenschaftlich inspirierte, kulturwissenschaftliche Perspektive und natürlich fehlt der Blick auf Raumtheorie und Erinnerungskultur nicht. Die Autorin referiert die grand dames der deutschsprachigen Literaturwissenschaft Doris Bachmann-Medick, Sigrid Weigel und Aleida Assmann. Des Weiteren sind die postcolonial studies ein wichtiger Impulsgeber, insbesondere auch, weil für Caroline Merkels Ansatz die Kultursemiotik Jurij Lotmanns zentral ist. Letztere liege ein wenig quer und abseits der anzitierten Theorien, aber verspreche, so die Autorin, doch einen „echten Mehrwert“. Vor allem die Idee der Semiosphäre und die Polarität von Zentrum und Peripherie macht sie für die Analyse der „heterogenen Facetten des Phänomens Vorstadt“ fruchtbar und verknüpft Lotmans Kultursemiotik mit der Vorstadt als „Gegenraum“, nur scheinbar stumm monotonen „Leerraum“ oder als heterogene dynamische „Kontaktzone“. Die Konzentration auf die Vorstadt ‚westlicher‘ Prägung wird also akzentuiert durch eine demgegenüber ‚peripher‘ zu nennende Kulturtheorie, was zwar nicht herausgestellt wird, aber umso spannendere Synergien hervorbringt.
Caroline Merkels Studie orientiert sich an den literarischen Texten und weist einen Weg durch die vielfältigen anknüpfenden Diskurse und Kulturtheorien. Nach der Einführung und einem etwas zu lang geratenem Überblick zu den folgenden Kapiteln widmet sich die Studie vier Themenkomplexen und vermeidet dabei konsequent eine Orientierung an Referenzräumen, Werken oder Autoren. Hervorzuheben ist auch die kritische Reflexion auf die Rezeption von Autorschaft und die Problematisierung von Migrationsliteratur. Die Lektüren zeichnet ein besonderes Gespür für die Verbindungen zur gebauten und projektierten Architektur aus und aus dem reichen Angebot an gegenwärtig verhandelten theoretischen Betrachtungen eröffnet die Autorin immer passende Bezugnahmen. Insofern sind die Lektüren durchaus spannend, wenn auch an vielen Stellen weitere Zitate wünschenswert wären. Manchmal verblasst ein Zitat zum Beleg der zuvor geäußerten Vermutung, während es doch durchaus weiteres Potenzial bieten würde, die literarischen Entwürfe der Vorstadt in ihrer ganz besonderen Eigenart zu verfolgen. Stattdessen bleiben Schlagworte wie „Entfremdung“ und „Aneignung“ die vorgefertigten Bauelemente, die einleuchtend und ansprechend zur Anwendung kommen, genauso wie die wiederholte programmatische Rekurrenz auf Walter Benjamin.
Caroline Merkel denkt in Produktive Peripherien die Vielfalt der theoretischen Annäherungen an die literarische Präsentation der Stadt zusammen mit den Diskursen der Soziologie und Architektur. Sie bezieht die kulturwissenschaftlichen als auch die gesellschaftlichen Debatten in Perspektive auf die Ränder der Stadt und liefert inspirierende Lektüren, in denen es immer wieder um Identität und Authentizität geht. Auf diese Weise zeichnen sich Kindheit, Rückkehr und Migration, aber auch Phantasma und Erinnerung als Themen der Vorstadt ab.
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