Die Dämonie der Zweisamkeit

Wenn außer uns niemand über uns spricht, wir aber auch nicht über uns sprechen, was bleibt dann von uns?

Von Isabel KriegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabel Kriegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann zieht durch die Straßen Frankfurts. Als halbmeisterlicher Realitätsflüchter und Vermeidungsstrategiker führt er eine halbwegs monogame Beziehung, die immer wieder halbfinal scheitert. Im engen Raum von Zwischenmenschlichkeit kollidieren Mittelmaß und Müßiggang, Langeweile und Gewohnheit, und begraben jede Chance auf Glück und Versöhnung unter öd-grauer Alltäglichkeit.

In seinem neuen Roman „Außer uns spricht niemand über uns“ beschreibt Wilhelm Genazino in gewohnt bedeckt-sarkastischem Ton mit feinen, moralinfreien Momenten das Mangelwesen Mensch und seine Umwelt.

Der Frankfurter Journalist, ehemals Satiriker und Redakteur, publiziert seit seiner „Abschaffel“-Trilogie Ende der siebziger Jahre in verlässlicher Stetigkeit Texte zwischen Erzählung und Roman. Durchweg beifällige bis begeisterte Kritiken und verschiedene Literaturpreise, darunter der Georg-Büchner-Preis, würdigen sein Schaffen. Trotzdem: Eigentlich hat Genazino ja nur ein einziges Buch geschrieben.

Ein Buch über das „Herumstehen in der öffentlichen Belanglosigkeit“. „Ein Mann zieht durch die Straßen Frankfurts“ wird zum Programm seiner Werksammlung, in der ein rundum mittelmäßiger Protagonist zum Flaneur, besser, zum Stadtstreuner wird, um seine innere Verwahrlosung an den Gegenständen städtischen Lebens erklärt, vielleicht auch gerechtfertigt zu finden. Berufstätig, aber nicht erfolgreich, viele Frauen, aber keine Bindung, liiert, aber isoliert, weder gutaussehend, noch unattraktiv, zu alt, um jung zu sein. Und dazu noch leidend. Er leidet an Weltverwirrtheit und der „Gesamtmerkwürdigkeit“ allen Lebens. Versöhnung mit seinem wüsten Innenleben findet er nur in der Flucht nach draußen, in die Straßen einer Stadt, in deren versteckten Winkeln er die Gesellschaft und sich darin beobachten kann. So derart in sich selbst verbissen, übersieht, vermeidet und ignoriert er die naheliegendsten Probleme.

Genazinos Frauenfiguren heißen Ulrike, Ulla, Susanne, Gabriele, Margarete, Margot oder nehmen einen ähnlichen hausfraulichen Namen an, der nach solider Bodenständigkeit klingt und von einer just vergangenen Zeit zeugt, in der Menschen noch Worte wie „Computerfabrik“, „Hawaii-Toast“ oder „Feinseife“ benutzten. Diesmal heißt die Frau im Leben des Protagonisten Carola. Schon der Klappentext handelt eigentlich nur von ihr und nicht unserem namenlosen Helden, denn sie führt nicht nur ihr eigenes Leben sondern auch seines. Ihr Leben ist in Bewegung, sie hat einen geregelten, wenn auch nicht befriedigenden Job, Familie, Freunde und Wünsche; ganz besonders stark ist der Wunsch nach einem Kind. Er aber hat nichts dergleichen, keinen Antrieb, keine Ziele, tatsächlich möchte er mit den meisten Dingen und Menschen nichts zu tun haben. Selbst Carola erträgt er nur aus der bequemen Distanz getrennter Wohnungen. Während er von Café zu Restaurant, vom Römerberg zum Main, von seiner Wohnung auf die Straße zieht, überlegt er, wie sein Leben bedeutsam werden könnte, damit er sich nicht weiter in der „Vernutzung des Alltags“ verheddern muss. Aus den Eindrücken trivialer Szenerien, die er auf seinem Weg beobachtet, baut er sich immer wieder mosaikartig ein Verständnis des Realen, dem er so oft entgleitet. Während er spaziert, wird Carola schwanger, verliert das Kind, verlässt ihn, kehrt zurück, verlässt ihn. Sie sprechen nicht darüber.

Wenn man schon völlig eingelullt ist von der beklemmenden Monotonie des Geschehens, holt Genazino zum überraschenden Schlag aus. Gerade ergeht sich der Protagonist noch über die Herrlichkeit seiner Kleiderbürste, die ihm als Krümelbürste außerordentliche Dienste leistet, da überrumpelt ein kurzer, prägnanter Satz den Leser, der zweimal lesen muss, was so beiläufig in den Gedankenstrom eingeworfen wird. Plötzlich sprechen alle über Carola – und Ihn.

Genazinos Roman trifft wieder punktgenau zwischen Schmunzeln und Schaudern. Der Meister des gedehnten Blicks konstruiert die Erzählung aus „Dingbeobachtungen“, deren absurde Inszenierung den aus ihnen entstehenden existenzphilosophischen Überlegungen die Schwere nimmt. Die Schlüsse, die der Protagonist aus seinen Beobachtungen zieht, sind aphorismenartig geformte Satzschönheiten, die Genazino gerade wegen seiner sauberen, schnörkellosen Sprache gelingen. Seine Werke sind ein Postulat der Langeweile. Wilhelm Genazino ihr unermüdlicher Anwalt. Die Kurzweil dankt der Langeweile.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
155 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252738

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