Ein „Familien-Schäfchen“

Hermine Wittgensteins „Familienerinnerungen“ sind ein reichliches naives und utopisches Familienporträt aus der Sicht einer eher unbekannten Wittgenstein

Von Edyta SzymanskaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Edyta Szymanska

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein (1874-1950) herausgegeben von Ilse Somavilla und mit einem Vorwort, Nachwort und einem umfangreichen Glossar versehen, ist eine weitere Biographie über die mehr als bekannte Familie Wittgenstein. Was ist also das besondere an dieser Ausgabe, die rund 65 Jahre nach dem Tod der Verfasserin veröffentlicht wird? Wie die Herausgeberin in ihrem Nachwort schreibt, wurde das hier enthaltene Kapitel über den Bruder von Hermine Wittgenstein, den Philosophen Ludwig Wittgenstein, der Öffentlichkeit schon vor langer Zeit zugänglich gemacht. Die Nachfrage nach den gesamten Familienerinnerungen war seitdem groß. Warum wird diese also jetzt erst herausgegeben? Bietet die Gesamtausgabe neue Erkenntnisse und die Möglichkeit, die einzelnen Familienmitglieder aus einer neuen Perspektive zu sehen? Oder stellt es doch nur einen weiteren Versuch dar, diese bedeutende Familie in das allgemeine Bewusstsein zu rufen? Während der Lektüre kommt unwillkürlich die Frage auf, ob wirklich ein weiteres Buch über die Familie Wittgenstein erforderlich war. 

Den Hauptteil dieser Ausgabe bilden die persönlichen Aufzeichnungen von Hermine Wittgenstein, eines der acht Kinder des österreichischen Unternehmers Karl Wittgenstein und seiner Gattin Leopoldine Wittgenstein. Die Aufzeichnungen drehen sich um die einzelnen Familienmitglieder und sind mehr oder weniger chronologisch verfasst. Den Großeltern beiderseits, dem Vater und der Mutter und den sieben Geschwistern von Hermine werden jeweils einzelne Kapitel gewidmet. Was bei der Lektüre auffällt ist eine sehr subjektive aber vor allem eigenwillige Sichtweise auf die Familie. Zwar sagt die Autorin selbst, „der Grad meiner Liebe für jeden Einzelnen hat keinen Einfluss auf die Ausführlichkeit oder Kürze der Darstellung“, sie vermittelt aber durch die gesamte Erzählung genau diesen Eindruck.

Das erste Drittel der Aufzeichnungen liest sich wie eine Hommage einer vernarrten Tochter an ihren Vater wobei die Vaterfigur Gottes ähnlich beschrieben wird. Die Anhäufung von Euphemismen und die peniblen Beschreibungen wirken größtenteils ermüdend und wirklichkeitsfern. Auch auf die Erscheinung ihres Vaters geht Hermine Wittgenstein ein, wobei auch hier natürlich der Eindruck vermittelt wird, das nie ein vergleichbar anmutiger Mensch diese Welt bewandert habe: „Er war ein kräftiger, wohlgebauter Mann, guter Fechter und Reiter, ein Mann, dem man die Energie und Unerschrockenheit auf hundert Schritte ansah. Er hatte ein schönes, männliches Gesicht, ohne im Geringsten das zu sein, was man mit einem leisen Beigeschmack einen schönen Mann nennt und er war ausgezeichnet angezogen, ohne eine Spur von Dandyhaftigkeit, dazu wirkte er viel zu imponierend.“ Negative Eigenschaften des Vaters werden nie direkt erwähnt, man kann diese lediglich zwischen den Zeilen lesen, wenn es beispielsweise darum geht, dass drei der insgesamt fünf Söhne Selbstmord begangen haben. Eher nur beiläufig erwähnt Wittgenstein, dass die drei Brüder, Hans, Kurt und Rudolf Wittgenstein, allesamt künstlerisch begabt und sehr sensibel, von ihrem Vater dazu gedrängt worden sind, in das Familienunternehmen einzusteigen.

Die Kunst und die Musik nahmen im Leben der Familie Wittgenstein zwar eine wesentliche Rolle ein, sie alle musizierten, malten oder sangen und unterstützten mehrere Kunstgalerien und Komponisten. Allerdings hatte das alles nur auf rein privater Basis stattzufinden. Und keinesfalls sollten diese „Hobbys“ mit der beruflichen Laufbahn vermischt werden. Genau diese Einstellung des Vaters könnte ein Grund für die Suizide der Söhne sein, ein Umstand, der hier jedoch fast komplett außer Acht gelassen wird.

Dafür findet sich mehr oder weniger indirekt eine Schuldzuweisung an die Mutter statt an den Vater. Leopoldine Wittgenstein wird teilweise für die Fehler ihres Gatten verantwortlich gemacht. So heißt es beispielsweise: „Es fehlte aber auch an einer Persönlichkeit, die zwischen den Beiden hätte vermitteln können, die meinem Vater imponiert und seine Fehler gezeigt hätte, und vielleicht wäre das von jeher die Aufgabe meiner Mutter gewesen. Aber ihr ganzes Wesen, wie es nun einmal beschaffen war, verhüllte ihr teils diese Aufgabe, teils machte es sie zur Lösung gänzlich ungeeignet. Meine Mutter war ja viel zu fügsam und viel zu unsicher“. 

Wer schon von dem ersten Drittel mehr oder weniger irritiert oder gar genervt und gelangweilt ist, wird mit dem weiteren Verlauf der Aufzeichnungen auch nicht glücklicher. Als nächstes widmet sie sich ihren Geschwistern, die ebenfalls nur in höchsten Tönen beschrieben werden, vor allem ihre beiden Geschwister Ludwig und Margaret. Zwar hatte ihre Schwester Margaret mit ihrem sozialen Engagement vor allem in Amerika dazu beigetragen, dass erhebliche Spendersummen für Nahrung im Nachkriegs-Österreich gesammelt wurden. Jedoch wird dieses hier so heroisch beschrieben, dass man den Eindruck gewinnt, als ob die Schwester Österreich nach dem zweiten Weltkrieg vor dem Verhungern gerettet hätte. „Sie sprach zu Ostern im jüdischen Tempel und rührte ihre Zuhörer zu Tränen, […]. Und schließlich wandte sie sich mit derselben Bitte an den Erzbischof von Chicago […] was ihm die schönen Worte entlockte: Your innocence saves you!“

Im Gegensatz dazu werden die Geschwister, mit denen Hermine persönlich kein engeres Band verband oder mit denen sie sogar sehr unterschiedlicher Meinung war im Bezug auf spätere Vorkommnisse, vor allem unter der Herrschaft Adolf Hitlers, nur am Rande erwähnt. Nähere Informationen bekommt man mehr aus dem beiliegenden Glossar der Herausgeberin als aus den Aufzeichnungen selbst. Das große Glossar, das rund 154 Seiten umfasst, beliefert den Leser mit Angaben zu Orten, Personen und Geschehnissen und bietet bei der Vielzahl der erwähnten Details eine notwendige Hilfestellung.

Die Ausführungen zu den jeweiligen Familiengruppen (Großeltern, Eltern, Geschwister) enden jeweils mit einem ca. halbseitigen Ausflug in die Gegenwart, nämlich dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Einmarsch der Alliierten. Was direkt zu dem zweiten großen Bereich der Erzählung führt,nämlich zu den Schilderungen der Vorkommnisse in der Familie mit jüdischen Vorfahren im Nazi-Deutschland. In dem Abschnitt geht es hauptsächlich darum, dass sich die Familie ,arische‘ Papiere zu beschaffen versuchte, was ihnen nach langem Hin und Her auch gelang und sie somit auf ihrem Gut in Österreich über den Krieg hinweg weiter leben konnten. Auch der Bruch zwischen den drei Schwestern, Hermine, Helene und Margaret und ihrem Bruder Paul spielt eine große Rolle. Diese wollten nämlich um keinen Preis Österreich und ihre gewohnte Umgebung verlassen und waren deswegen auch bereit, einen erheblichen Teil ihres Vermögens zu opfern. Ihr Bruder Paul dagegen, der nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland auswanderte, war keinesfalls gewillt, Geschäfte mit den Nationalsozialisten zu machen, die ihm zuerst verboten, seinen Beruf  auszuüben und ihn schließlich zur seiner Flucht regelrecht getrieben haben. In der Schilderung wird Paul von seiner Schwester allerdings eher als ein egoistischer Mensch beschrieben, dem es nur wichtig ist, sein Vermögen nicht einbüßen zu müssen und dem es dabei egal ist, dass seine Schwestern sich noch in größter Gefahr befinden. „Zu allem oben Erwähnten, unter dem Paul litt und das ihn bedrängte, kam noch der leidenschaftliche Wunsch, sein Vermögen nicht zu verlieren.“

Dass ein Teil der Familie die Heimat, für die sie teilweise in dem ersten Weltkrieg gekämpft hatten, nicht einfach so verlassen wollte, ist durchaus nachvollziehbar. Allerdings fehlt es auch hier wie in dem restlichen Teil der Geschichte der Erzählerin komplett an Objektivität und an der Fähigkeit einmal über den eigenen, sehr naiven Tellerrand zu schauen. Nicht umsonst wird sie von ihrem Cousin als „Schäfchen der Familie“ bezeichnet, was exakt ihre Stellung in der Familie und ihre Sicht auf die Welt trifft.

Den Schreibstil von Hermine Wittgenstein kann man als für jeden verständlich bezeichnen. Allerdings lässt sich der Anhang der Herausgeberin leichter und kompakter lesen. Dass eine wissenschaftlich angehauchte Zusammenfassung spannender als der Primärtext ist, zeugt von der Qualität der Aufzeichnungen von Hermine Wittgenstein. Wittgenstein verstrickt sich immer wieder in ausführliche Beschreibungen von Details, wie architektonische Besonderheiten der Häuser, die allerdings weder der Charakteristik der beschriebenen Personen noch dem flüssigen Lesen dienen. Die gesamte Erzählung von Hermine Wittgenstein kann man durchaus als eine nette und teils gelungene Geste an ihre Familie betrachten. Allerdings kann sich der Leser nur schwer mit den einzelnen Personen identifizieren. Alle beschriebenen Gegebenheiten werden zwar von einer Person wiedergegeben, die unmittelbar am Geschehen teilgenommen hat, die jedoch von der Pracht und dem Prunk der Familie anscheinend so geblendet war, dass man als Leser nie den Eindruck verliert, all ihre Aussagen kritisch hinterfragen zu müssen.

Es kann sein, dass dieses Buch so manch einen Biographien-Liebhaber und -Kenner der Familie Wittgenstein interessieren und bereichern könnte.  Allerdings ist und bleibt es eine süße Geschichte über den vergangenen Glanz einer großen Familie, die an die Schwärmerei kleiner Kinder erinnert.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen.
Herausgegeben von Ilse Somavilla.
Haymon Verlag, Innsbruck 2015.
542 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783709972007

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