Remember, remember the 13th of November

Mit seinem Pamphlet „Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror“ landet der kontrovers diskutierte Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek auf der Spiegel Bestsellerliste

Von Lilia SakalRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lilia Sakal

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hinter einem schreiend neonpinken Einband mit der Abbildung einer geballten Kampffaust verbirgt sich Slavoj Žižeks überraschend nüchterner, oft aber recht nebulöser Ton in der Auseinandersetzung mit den aktuellsten Themen der Gegenwart: die Flüchtlingskrise und der islamistische Terrorismus. Bereits im Untertitel kündigt er die Aufschlüsselung der „wahren Gründe“ für Flucht und Terror an und verkündet, „die wahre Bedrohung für unsere westliche Lebensweise sind nicht die Immigranten, sondern es ist die Dynamik des globalen Kapitalismus.“ Hier offenbart sich der unverbesserliche Marxist in dem ebenfalls an Freud, Hegel und Lacan geschulten Philosophen Žižek. So reichen seine Lösungsansätze vom Appell an die Westeuropäer, sich von der blinden Empathie gegenüber fremden Kulturen zu lösen und die Flüchtlinge nicht nur zu respektieren, sondern ihnen den – titelgebenden – gemeinsamen (Klassen-)Kampf gegen die ökonomischen Gründe von Flucht und Terror anzubieten, bis hin zu der Generierung eines neuen, universalen Kommunismus. Wie genau das Ganze aussehen und welche Abgrenzung man zu den kommunistischen Experimenten der Vergangenheit vornehmen soll, darüber lässt Žižek den Leser größtenteils seine eigenen Schlüsse ziehen. Macht er es sich damit vielleicht zu einfach? Mag sein. Aber in jedem Fall lohnt ein näherer Blick in sein neuestes Manifest, das, mit unerwarteten Einfällen, schwindelerregenden Gedankensprüngen von Mary Shelley zu Adolf Hitler und weiteren weltgeschichtlichen Bezügen gespickt, eine kognitive Landkarte für den zukünftigen Umgang mit der politischen Krise von heute zeichnen will. 

In gewohnt provokativer Manier feuert Žižek schon auf den ersten Seiten eine Salve bitterer Vorwürfe gegen seine linken Glaubensgenossen ab. Darin fordert er sie auf, sich endlich von den „linken Tabus“ zu befreien und macht damit seinem Ärger über die Reaktionen auf die jüngsten Terroranschläge in Paris vom 13.11.2015 Luft. Er kritisiert die bigotte Anteilnahme der Linken, ihre Kritik am Eurozentrismus und ihre Angst, sich der Islamophobie schuldig zu machen, und somit die Menschenrechtsverletzungen, die der islamische Fundamentalismus begeht, beharrlich zu ignorieren. Mitgefühl löse keine Probleme, im Gegenteil verhindere es sogar die Erreichung dieses Ziels. Daher plädiert Žižek für einen angemessenen Respekt vor und Distanz zu kultureller Andersartigkeit, denn nur so entstehe eine authentische Koexistenz. Weiterhin wettert er gegen den Hohn der Linken über die kleinbürgerlichen Sorgen um die neue Konkurrenz um Arbeitsplätze und preiswerte Wohnungen. Denn wo sozial benachteiligte Menschen auf Flüchtige mit vergleichbaren Problemen treffen, sieht Žižek die bedeutsame Chance für einen Schulterschluss auf Basis der Solidarität der Ausgebeuteten. Hier stellt sich allerdings die Frage, wie der Besitz umverteilt werden sollte, um ein materielles Gleichgewicht als Basis der Zusammenarbeit zu schaffen. Wer soll diese Masse anführen? Wer setzt die Ziele und wie könnten diese definiert sein? Žižeks Ausführungen entbehren jeglicher Hinweise, wie eine mögliche Kooperation zwischen den Flüchtlingen und den Westeuropäern umgesetzt werden könnte. Oder soll etwa eine radikalere Linke, der er in diesem Werk ein ganzes Kapitel widmet, diese führende Rolle übernehmen? 

Žižeks Leitbild lautet: „Um authentisch zu leben, muss man extrem werden, man muss die falsche Realität gewaltsam demaskieren.“ Aus diesem Grund ist es ihm ein dringendes Anliegen, die wahren Ursachen der Massenbewegungen von über 50 Millionen Menschen weltweit zu ergründen. Diese seien nämlich nicht in der Korruption, Ineffizienz oder dem Interventionismus zu suchen, sondern in der Globalisierung der Landwirtschaft. Am Beispiel Afrikas veranschaulicht Žižek die Folgen der langfristigen Politik des Westens, die er von den USA und der Europäischen Union diktiert und über Jahrzehnte von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und weiteren internationalen Institutionen umgesetzt sieht. Diese Politik zwang die afrikanischen Regierungen, keine Kredite für landwirtschaftliche Investitionen zu vergeben und stattdessen die massenhafte Güterproduktion für den Export zu subventionieren. So kam es, dass Afrika nicht länger in der Lage war, sich selbst mit Nahrungsmitteln zu versorgen, Bauern ihr Land aufgeben mussten, wie Sklaven behandelt werden und der Kontinent heute auf Lebensmittelimporte angewiesen ist. Kurzum: Es ist der außer Rand und Band geratene Kapitalismus, der eine radikale Klassentrennung über den gesamten Globus verursacht und die Menschen in diejenigen in und jene außerhalb dieser Sphäre in zwei rivalisierende Klassen teilt. Wenn also überall auf der Welt Gesellschaftsschichten von sozialer Partizipation ausgeschlossen werden, sei es nicht verwunderlich, dass Menschen zu Extremisten werden oder dorthin streben, wo es ihnen möglicherweise besser gehen könnte, so Žižek. Was können wir also tun? Žižek empfiehlt, die Basis der Gesellschaft weltweit so umzugestalten, dass Armut unmöglich wird. Er spricht hier zunächst von der notwendigen Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, allerdings ohne diesen Aspekt näher zu erläutern. Ähnlich verhält es sich auch mit seinem Aufruf zu einem neuen Klassenkampf und dem Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft, denn es fehlen sowohl eine entsprechende Deutung als auch konkrete Ratschläge. Es scheint aber unwahrscheinlich, dass er eine große Revolution nach leninistischem Vorbild im Sinn hat. Viel eher impliziert er, dass lediglich eine ökonomische Veränderung auf Basis einer internationalen Kooperation eine „neue Apartheid“ verhindern könne.

Žižek provoziert ganz unverhohlen. Für viele seiner Thesen wird er vorbehaltlose Zustimmung ernten. Etwa wenn er sich über einige Aspekte der linken Politik echauffiert. In vielem muss man ihm aber auch entschieden widersprechen. Beispielsweise wenn er das Untersagen der Kritik am Islam als ausdrücklich linkes Tabu bezeichnet oder von der Utopie einer globalen Militarisierung spricht. Aber er legt den Finger in die Wunde und erhebt keineswegs den Anspruch, Sympathiepunkte zu sammeln. Stattdessen will er seine Leser herausfordern, sie zwingen, Stellung zu beziehen und verstaubte Ansichten zu hinterfragen. Dabei geht er wie ein olympischer Weitspringer vor, der mit den ersten gemäßigten Sätzen seiner Argumentation zunächst langsam Anlauf nimmt, um dann mit stetig gesteigerter Geschwindigkeit immer mehr Fakten und Beispiele aneinander zu reihen. Diese stehen zwar nicht in direktem Bezug zueinander, kulminieren aber in dem eigentlichen Sprung, bei dem er es dem Leser in der Luft selbst überlässt zu entscheiden, wie weit seine eigenen Gedankensprünge bei der Weiterführung von Žižeks Ideen reichen sollen. Häufig wird er aufgrund eben jener in den Raum gestellter und „unausgereifter“ Slogans wie dem der Umgestaltung der Gesellschaft kritisiert. Möglicherweise weiß er selbst keine Antwort, oder er ist einfach zu weise, um ein Patentrezept zur Lösung einer der komplexesten Krisen unserer Zeit auf dem Silbertablett zu servieren. Der neue Klassenkampf stellt mit vielen bereits bekannten Fakten sicherlich nicht das Meisterwerk in Žižeks Laufbahn dar, jedoch trifft er mit aktueller Brisanz den Zeitgeist und regt damit umso mehr zu polarisierenden Diskussionen an.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Slavoj Žižek: Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Schneider.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 2016.
96 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783550081446

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