Begegnungen zwischen Dichtern und Texten

Erik Schilling über literarische Dialoge und dialogische Literatur

Von Jennifer ClareRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jennifer Clare

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „poetische Beziehung“ kann sowohl zwischen Lyrikern und Texten als auch zwischen verschiedenen Texten bestehen – und immer ist sie interaktiv. Erik Schilling begibt sich mit seiner Studie Dialog der Dichter auf die Spur dieser Beziehungen und Interaktionen in doppeltem Sinne. Kernbegriff seiner Überlegungen ist der Dialog, den er aus Michail Bachtins Konzept der Dialogizität entwickelt. Wie Bachtin geht er an Literatur erstens über ein Kommunikationsmodell heran, das Texte aus ihrer spezifischen Konstellation von sprechender und rezipierender Instanz heraus begreift und einordnet. Zweitens greift er den Bachtin’schen Begriff der Polyphonie auf – die Vielfalt von Stimmen innerhalb eines Textes, die aus einer grundsätzlich intertextuellen Zusammensetzung aller Literatur resultiert. Auf diesen beiden Achsen – der Situierung eines lyrischen Texts innerhalb eines Kommunikationsaktes und dem Aufzeigen dialogischer Elemente innerhalb des Textes – baut Schilling seine Textarbeit auf.

Mit Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann und Paul Celan, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl sowie Thomas Kling und Durs Grünbein stehen in chronologischer Reihenfolge in sechs Kapiteln sechs Konstellationen von je zwei LyrikerInnen und ihren Texten im Fokus. Die Konstellationen unterscheiden sich stark, sowohl in Bezug auf die Art der Beziehung als auch auf die Grade und Zeiträume der Zusammenarbeit. Das jahrzehntelange Zusammenleben als Paar von Mayröcker und Jandl trifft etwa auf die kurze, zerworfene Freundschaft zwischen George und Hofmannsthal oder den mehr textuellen als persönlichen Kontakt zwischen Grünbein und Kling.

Gemeinsam ist allen sechs Konstellationen, dass sie – in sehr unterschiedlicher Form – auf Seiten beider Beteiligter vom „Dialog“ geprägte Lyrik hervorbringen oder sich zumindest mit der (Un)möglichkeit von Dialogizität auseinandersetzen (im Falle Gottfried Benns).

Die kurze Zusammenstellung zeigt bereits, wie breit das Spektrum ist, in dem Schillings Studie Dialogizität versteht: Als dialogische Elemente sind an Personen gerichtete Gedichte in biografischer Funktion ebenso im Spiel wie Dialoge im Text oder zwischen Texten, Dialoge mit der Leserschaft ebenso wie polyphone Sprachstrukturen und allgemein dichotomische Strukturen etwa in der Bildsprache.

In dieser Entscheidung liegen gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche des Bandes: Die Ergebnisse innerhalb der einzelnen Gedichte und auch innerhalb der jeweiligen Zweierkonstellation leuchten ein, sie öffnen über den Begriff des Dialogs wichtige neue Deutungsdimensionen auch für kanonisierte Texte. Vor allem die gut bekannten Rilke-Gedichte geben mit diesem Fokus gelesen erstaunlich viele Einsichten frei. Der in der Einleitung ausgesprochenen „Einladung, Lyrik zu lesen“, kommt man unter dieser Voraussetzung gern nach – vor allem angesichts der angenehmen Lesbarkeit durch das methodisch schlanke Verfahren.

Als Oberbegriff im Rahmen des gesamten Bandes bleibt der Begriff der Dialogizität jedoch etwas vage. Zuweilen verkommt er in seiner sehr breiten Anwendung zum Stichwortgeber für (zweifellos interessante) Einzelfälle. Die sehr heterogenen, unter dem Begriff des Dialogs angesprochenen Phänomene lassen sich nur zum Teil unter Bachtins Konzept der Dialogizität sinnvoll bündeln.

Dass der Band auf ein Fazit verzichtet, entspricht der Stärke der Einzelessays ebenso wie der Schwierigkeit, ihre Ergebnisse begrifflich präzise auf einer Metaebene zusammenzuführen.

Schillings Studie macht für die einzelnen Gedichte den Aspekt des Dialogischen definitiv fruchtbar. Eine befriedigende Lösung, zeit- und konstellationsübergreifend über literarische Zusammenarbeit und die komplexe Interaktion zwischen mehreren Texten und/oder Schreibenden zu sprechen, findet sie leider nur zum Teil.

Titelbild

Erik Schilling: Dialog der Dichter. Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
155 Seiten, 23,99 EUR.
ISBN-13: 9783837632460

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