Menschliche Abgründe im idyllischen Londoner Vorort

Der fesselnde Thriller „The Girl on The Train“ von Paula Hawkins reißt den Leser mit sich auf eine packende Suche nach der Wahrheit

Von Annika HeinzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Heinze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rachel Watson, Protagonistin aus Paula Hawkins Thriller „The Girl on The Train“ hat mit einem starken Alkoholproblem zu kämpfen sowie mit der Tatsache, dass ihr Ex-Mann Tom sie für eine Andere verlassen hat. Aufgrund ihrer starken Alkoholabhängigkeit hat sie ihren Job verloren, fährt jedoch jeden Morgen mit dem Zug um 08:04 Uhr nach London, um vor ihrer Mitbewohnerin nicht das Gesicht zu verlieren. Der Zug hält jeden Tag am gleichen Streckensignal und vom Fenster aus sieht Rachel stets die gleichen viktorianischen Häuser der Blenheim Road. In einem davon hat sie einmal selbst gewohnt, doch nun lebt dort ihr Ex-Mann mit seiner neuen Familie. Ein paar Häuser weiter wohnen ‚Jess‘ und ‚Jason‘ ‑ fiktive Namen, die ihnen die Protagonistin gibt. Rachel beobachtet das Paar jeden Morgen von ihrem Platz aus und überlegt sich, wie glücklich das Leben der beiden wohl sein muss in dieser perfekten Kleinstadt am äußeren Rand von London. Doch eines Morgens sieht Rachel, wie ‚Jess‘ einen fremden Mann küsst und ihre Traumvorstellungen vom perfekten Leben im Vorort werden jäh zerstört. Das durchaus ungesund obsessive Verhalten der Protagonistin gegenüber ihrem Ex-Mann Tom, ein besonders heftiger Filmriss ihrerseits sowie das Verschwinden von ‚Jess‘ führen dazu, dass sich Rachel in das Leben der Bewohner der Blenheim Road einmischt, was das ihrige und das aller Beteiligten nur noch mehr aus der Bahn wirft.

Hawkins erzählt eine packende Geschichte über Lügen, Gewalt, Alkoholmissbrauch, Verlust, Betrug, Liebeskummer und ungesunde Neugierde in einer scheinbar makellosen Welt ‑ doch wie sich herausstellt, haben sich hinter den perfekten Fassaden einige Leichen in den Kellern angehäuft. Die Geschichte wird aus den verschiedenen Perspektiven der drei beteiligten Frauen Rachel, ‚Jess‘ sowie Anna ‑ der neuen Ehefrau von Tom ‑ erzählt. Jedoch fällt es dem Leser schwer zu entscheiden, mit welcher Figur er sympathisieren will ‑ beziehungsweise darf. Da man immer nur stückweise Informationen erhält und diese durch die unzuverlässigen Erzählerinnen extrem geprägt sind, fällt es schwer zu entscheiden, ob das, was man in den jeweils sehr kurzen Kapiteln erfährt, wahr ist oder nicht. Doch gerade diese Art der Informationszurückhaltung, welche von Hawkins bis zum Äußersten ausgereizt wird, macht dieses Buch zu einem einzigartigen Leseerlebnis. Gerade beim finalen ‚Showdown‘ ist es praktisch unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen oder nicht auf das Ende des Kapitels zu schielen. Auch ist für den Leser bis zur tatsächlich letzten Seite nicht eindeutig, wem er nun Glauben schenken darf.

Die Figuren in Hawkins Thriller sind schamlos ehrlich gestaltet und besonders Rachel ist mit ihrem Alkoholproblem und ihrer teilweise sehr labilen Psyche so authentisch dargestellt, dass sie fast schon auf unheimliche Weise real erscheint. Es ist für den Leser nahezu unangenehm, wenn sie nachts betrunken wieder einmal ihren Ex-Mann anruft oder anderweitige falsche Entscheidungen trifft und sich so immer tiefer in ein Netz aus Lügen verstrickt. Jedoch macht gerade die Mischung aus diversen verdrehten Tatsachen, den nur stückweise zugänglichen Informationen und der überraschenden Verbindung der Figuren miteinander die Spannung und Faszination dieses Buches aus. Hawkins ist mit diesem Buch eine Erzählung gelungen, die nichts für schwache Nerven ist und die von Spannung, Nervenkitzel und Misstrauen geprägt ist.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Paula Hawkins: The Girl on the Train.
Penguin, London 2016.
416 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-13: 9781784161101

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