Glanzstücke eines Trendsetters des Feuilletons

Jakob Augstein versammelt wichtige Zeitungstexte Frank Schirrmachers

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Frank Schirrmacher im Sommer 2014 überraschend starb, war das Medienecho gewaltig. Die Journalistenkollegen überboten sich mit Superlativen bei ihren Würdigungen der Lebensleistung des in recht jungen Jahren von einem Herzinfarkt aus seinem produktiven Leben Gerissenen. Der junge Überflieger wurde schon mit 25 Jahren Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, mit 30 wurde er Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki als Leiter der Literaturredaktion und mit 35 der für das Feuilleton verantwortliche Herausgeber der „FAZ“. In dieser Rolle prägte er für 20 Jahre die intellektuellen Debatten im deutschsprachigen Raum. Er suchte, erfand und gestaltete neue Themen und Formen des geistreichen Lebens wie wohl kein anderer Journalist seiner Generation.

Einem in manchem vergleichbaren Blattmacher, Rudolf Augstein, dem bedeutendsten Journalisten der Nachkriegsgeneration, dem Erfinder und Leiter des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, gilt einer der in dieser Auswahl versammelten Nachrufe, die Schirrmacher mit gutem Gespür für die Eigenheiten und die Wirkungsmacht von Autoren und Kollegen schrieb. Ein weiterer Nachruf rühmt seinen Vorgänger Marcel Reich-Ranicki, dem er, wie sich hier noch einmal zeigt, gerade in der Debatte über antisemitische Züge in Martin Walsers Schlüsselroman Tod eines Kritikers zeitlebens aufs Engste verbunden war. In diesen Nachrufen, wie in anderen seiner Porträts, kreiste Schirrmachers Charakterisierungskunst, seine Darstellung und Wertung der bedeutenden Zeitgenossen um die Kategorie menschlicher Größe. Sein Text zum Tod Reich-Ranickis war denn auch mit diesem Leitmotiv in Steigerungsform überschrieben: „Ein sehr großer Mann“.

Die in Ungeheuerliche Neuigkeiten vorgelegte Textauswahl verdeutlicht, was eine Vielzahl von Schirrmachers Zeitungsessays kennzeichnete: die Suche des Journalisten nach individueller Größe und Bedeutsamkeit zum einen, das Aufspüren und Verkünden epochaler historischer Tendenzen zum anderen. Großen Autoren baute er in seinen Texten ihren Sockel, wenn er etwa Bertolt Brecht als bedeutendsten kommunistischen Schriftsteller charakterisiert, oder wenn er Rudolf Augsteins immensen Einfluss auf folgende prägnante Formel brachte: Er „war journalistische Macht, politische Macht und Wirtschaftsmacht […]. Zeitweise war er der mächtigste Mann im Staat“. Joachim Fest fragte er: „Kann man Hitler groß nennen?“ Sein Vorgänger Fest verneinte dies, da Hitler jegliches Gran Güte fehlte, was laut Jacob Burckhardt zu historischer Größe dazugehöre.

Epochale, geschichtsverändernde Entwicklungen sind das andere Suchbild des Blattmachers und Autors. So pointiert Schirrmacher die geschichtsphilosophischen Wendepunkte, die er etwa angesichts der maschinengesteuerten Mondlandung aufscheinen sieht, oder beim Bericht über wissenschaftliche Bemühungen amerikanischer Kommissionen, Zeichensysteme zu entwickeln, die unseren Nachfahren in 10.000 Jahren die Gefahr radioaktiver Endlagerstätten verständlich kommunizieren könnten, oder bei seiner 1999 formulierten Prophezeiung, dass das neue Jahrtausend bald nach dem Jahr 2000 die dem 20. Jahrhundert entstammenden Personen und Ideen schnell für veraltet und moralisch diskreditiert erklären wird. Zumindest ihm blieb dieses Schicksal des zügigen Veraltens im 21. Jahrhundert erspart.

Geistesgegenwart und die mutig deutungsfreudige Stiftung von Orientierung mit allen rhetorischen Mitteln erweisen sich als Kardinaltugenden für den Kulturjournalisten, der stets über den Tag hinaus zu denken versuchte. Solche Geistesgegenwart bei der philosophischen Einordnung erschütternder Ereignisse bewies Schirrmacher auch 2001, unmittelbar nach den Anschlägen auf die USA am 11. September, als unzählige um ihre Meinung gefragte Kommentatoren weitaus diffusere und weniger plausible Erklärungen und Folgerungen ablieferten. Am Tag darauf verdeutlichte er mit Bezugnahme auf Technikphilosophen und Thriller-Autoren, wie diese Anschläge auf bisher wenig beachtete Zukunftsprognosen von Technikvisionären und den Szenarien von Fiktionsautoren verweisen. Schirrmacher  schlussfolgerte und prophezeite damals:

Der Terrorismus hat nicht nur instrumentell, sondern auch geistig eine elementare technische Schwelle überwunden. Es gibt für das, was er tut, kein besseres Bild als das des Computervirus. Er nistet sich in unsere Systeme ein, um uns mit ihnen zu überfallen. […] Die Symbiose der Kulturen – die Vermählung von Technologie und Religion – ist auf der Gegenseite längst erfolgt. Ganz anders, als es je einer erwartet hätte. Die Waffe, die daraus geschmiedet wird, sie ist ungeheuer. Sie droht uns jederzeit.

Betrachtet man diese wie auch andere geschichtsphilosophische Prophezeiungen Schirrmachers mit Abstand und ganz nüchtern, so stellt man fest, dass auch dieser Journalist in seiner Rolle als Prophet kein verlässliches Zukunftswissen besaß. Zum Glück blieb nämlich eine solch komplexe, technologisch basierte Anschlagswelle wie die Verwendung ziviler Flugzeuge als höchst destruktive Sprengmittel für Hochhäuser und das Pentagon ein bis heute einmaliges Ereignis. Freilich mag diese glücklicherweise nicht wahr gewordene  Prophezeiung, mithin die seither nicht mehr erfolgreich kopierte Kaperung avancierter Technologien als Terrorwaffen, mit den gleichfalls beängstigenden Hochrüstungen der Cyberüberwachungs- und Kommunikationskontrollstrategien zu tun haben, denen Schirrmacher einige Jahre später sein besorgtes liberales Augenmerk zuwandte.

Eines der Kapitel der in sieben assoziativ gefügte Abschnitte gegliederten Textauswahl ist Artikeln Schirrmachers über demografische Zukunftsszenarien und der drohenden Alterung unserer Gesellschaft gewidmet. Also jenem angstbesetztem Themenkomplex, zu dem Schirrmacher seinen ersten Buchbeststeller (Das Methusalem-Komplott) landete. Die Debatten über Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung prägen seither viele politische und wissenschaftliche Diskurse über Bildung, Immigrationspolitik und die Zukunft sozialer Sicherungssysteme. Schirrmacher war dabei gewiss nicht der erste, der auf massive Verschiebungen in der Alterspyramide und deren mögliche Folgen hinwies. Doch mit seinem einflussreichen Amt und seinem Sinn für Rhetorik und Dramatisierung sorgte er für eine meisterhaft inszenierte und mustergültig wirkmächtige Demografie-Debatte.

Das mit 100 Seiten bei Weitem umfangreichste Kapitel besteht aus Texten und Gesprächen Schirrmachers zu Marcel Reich-Ranicki, zu und mit Günter Grass sowie Martin Walser. Dieses Kernkapitel verhandelt somit, ohne dass dies in der Kapitelüberschrift deutlich würde, deutsche Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungspolitik. Denn die Walser-Texte und das von Schirrmacher mit Salomon Korn initiierte und geleitete Gespräch zwischen Walser und Ignatz Bubis im Nachgang der sogenannten „Walser-Debatte“ nach dessen Friedenspreis-Rede drehen sich wie die weiteren hier vereinten Artikel um das Finden einer möglichst angemessenen Sprache für die maßlos traumatisierenden Taten des deutschen Zivilisationsbruchs. Hier zeigte sich der wegen seinem Interesse an Figuren wie Stefan George oder Ernst Jünger von manchen Kreisen lange als Konservativer (oder gar als Revisionist) Bezichtigte als ein sehr verantwortungsvoller Moderator, dem an unbedingter Aufklärung gelegen ist und der beim Verhandeln deutscher Schuld keine Abstriche und keine Schlussstriche gelten lassen wollte. Seine Nähe zu seinem Mentor Reich-Ranicki ist in diesen Texten unverkennbar. Sein Mut zur beherzten Stellungnahme kennzeichnet seine öffentliche Ablehnung des Vorabdrucks von Walsers Schlüsselroman Tod eines Kritikers über seinen Amtsvorgänger, was Schirrmacher (ähnlich wie später Günter Grass’ israelkritisches Gedicht Was gesagt werden muss) als aggressive Schuldprojektionen und nur psychologisch deutbare Inversionsleistungen der deutschen Autoren auffasste. Erhellend ist hier gerade die Zusammenstellung der Texte über Martin Walser – der im Übrigen, wie seit einem Jahrzehnt auch öffentlich bekannt ist, der leibliche Vater Jakob Augsteins ist, was zu einer eigentümlichen Konstellation zwischen dem Buch-Herausgeber und zwei seiner von Schirrmacher charakterisierten Vater-Figuren führt. Denn Schirrmacher scheut sich als Walsers Laudator bei der Friedenspreis-Verleihung ebenso wenig vor einfühlsamem Lob und Nachvollzug riskanter Walser’scher Denk- und Bekenntnisbewegungen, wie er als scharfer Kritiker agiert angesichts des taktlosen Schlüsselromans über den jüdischen Literaturkritiker, der dem Holocaust entkam.

1990, einen Tag vor der offiziellen Wiedervereinigung von BRD und DDR publizierte der gerade gut 30-jährige Journalist als ästhetischer Geschichtsphilosoph und Literaturprophet seinen „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“ in dem er die Nachkriegszeit samt einiger Mythen des westdeutschen Bewusstseins für beendet erklärte:

Nicht nur die Literatur der DDR sollte eine Gesellschaft legitimieren und ihr neue Traditionen zuweisen; auch die Literatur der Bundesrepublik empfand diesen Auftrag und führte ihn gewissenhaft aus. Der Preis war die Vergangenheit. Es scheint, dass ein Großteil der westdeutschen Literatur den Raum der Geschichte nicht geöffnet, sondern ihn, ungewollt, versperrt hat.

Hier verdichten sich die geschichtsdeutenden und die Kommendes, Neues prophezeienden Ambitionen des Journalisten in einem jener Texte, die mit dem Mut zur Fehldeutung zeitnah Strömungen, Tendenzen und Epochen zusammenfassen, wie es sich die akademische Literaturgeschichtsschreibung kaum je oder erst mit dem Abstand von Jahrzehnten zutraut.

Wie neugierig Schirrmacher war, wie sehr er seine eigenen publizistischen Kampagnen auf Gesprächen und auf den Büchern anderer an Zukunftsentwicklungen (und manchmal auch: an deutscher Vergangenheitsbewältigung) interessierten Zeitgenossen aufbaute, wird durch einige im vorliegenden Band abgedruckte Gespräche demonstriert. So widmet sich ein Gedankenaustausch mit dem vor allem in den Megastädten Asiens Stadtentwicklung betreibenden Architekten Albert Speer den schrumpfenden Städten in Deutschland. Mit Günter Grass redete Schirrmacher über dessen jugendliches SS-Engagement anlässlich des Erscheinens seiner Erinnerungsschrift Beim Häuten der Zwiebel. Im Gespräch mit Joachim Fest erkundet er, wie dieser Faschismus und Krieg erlebte, und wie er dann eher zufällig zum Hitler-Biografen wurde.

Bei aller Schärfe des analytischen Nachdenkens und bei aller Imaginationskraft für zukünftige Entwicklungen sind Schirrmachers zeitdiagnostische Zeitungsartikel mit ihren Zukunftserzählungen stets auch von einer Rhetorik der Emotionen geprägt. Leitend ist hierbei das Mittel der Furcht, die Erregung von Angst und Schrecken angesichts dystopischer Tendenzen oder geradezu apokalyptischer Szenarien. Aber der Publizist als gewiefter Rhetoriker verstand sich auch auf Wut und Enttäuschung, wie sie in seinen Artikeln zur Finanz- und Bankenkrise (die er als Generalkrise des Kapitalismus begriff) seit 2008 zum Ausdruck kamen. Hier warf er den bürgerlichen Parteien vor, ihre Werte und Ideale an unverantwortlich räuberische Banker ausgeliehen zu haben und nun im Moment der Krise und der Verstaatlichung der privatwirtschaftlichen Verluste diesen Bankrott bürgerlicher Werte weitgehend passiv hinzunehmen. Was den liberalen Verehrer dieser Werte beinahe zum Sozialismus konvertieren ließ, da dessen Denkmodelle mit manchen Diagnosen kapitalistischer Misswirtschaft offenbar doch Recht hatten.

Etwas zu kurz kommen in dieser Textauswahl die jüngeren Debatten zu Gentechnik, Computer- und Überwachungstechnik. Diesen widmete Schirrmacher nicht nur durch Beiträge vor allem amerikanischer Spezialisten (wie Jaron Lanier oder Ray Kurzweil), aber auch deutscher Autoren aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs große Aufmerksamkeit im „FAZ“-Feuilleton. Und zu diesen verfasste er auch selbst gelegentlich pointiert zuspitzende Artikel. Es fehlt neben den genuin westdeutschen Literaturheroen-Debatten um Grass und Walser auch Schirrmachers wichtiger initialer Beitrag zum sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit, der im Sommer 1990 um Christa Wolfs Erzählung Was bleibt entbrannte – und der über das einzelne Buch hinaus den ästhetischen Wert und Status der DDR-Literatur wie politischer Literatur überhaupt zum Thema hatte.

Gerne wiedergelesen (oder doch eher wegen seiner symbolischen Kühnheit und Unlesbarkeit: wieder gesehen) hätte man Schirrmachers hier nicht abgedrucktes ‚Genom-Feuilleton‘ aus dem Sommer 2000, als er die sechs Seiten des Kulturteils komplett mit Sequenzen aus jenem gerade von Craig Venter, seinen Mitstreitern und Maschinen erstmals komplett entschlüsselten Genom eines Menschen bedrucken ließ: „GAGGAT CCATGA GTGGAG AAATAG“. Was klang wie dadaistische Lautpoesie, war doch sein so entschlossener wie publizistisch und aufmerksamkeitsästhetisch tollkühner Versuch, dem Kulturpublikum die Bedeutsamkeit dieser neuen biologischen Wissensfortschritte einzuhämmern.

In Jakob Augsteins kurzem Vorwort wird das Wesen und Wirken Schirrmachers mit knappen Anekdoten aus persönlichen Begegnungen charakterisiert: „Seit Jahren denkt er für Deutschland. Seine Themen werden zu den öffentlichen Themen. Ist das eine Übertreibung, eine Anmaßung? Natürlich. Der ganze Mann ist eine Übertreibung, eine Anmaßung, die sich selbst rechtfertigt.“ Zur Erinnerung an einen zweifellos herausragenden Journalisten der letzten Dekaden sei dieser Auswahlband ebenso empfohlen wie als Studienobjekt für journalistisches Schreiben. Denn vor und nach allem Gespür für epochale Trends und persönliche Schöpferkraft besteht das Handwerk des Redakteurs aus dem wirkungsbewussten Umgang mit Worten. Und seine Worte und Sätze wusste Schirrmacher meist trefflich zu setzen.

Titelbild

Frank Schirrmacher: Ungeheuerliche Neuigkeiten. Texte aus den Jahren 1985 bis 2014.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Jakob Augstein.
Blessing Verlag, München 2015.
335 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783896675569

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