Von Menschen und Hunden
Eva Schmidt beobachtet in „Ein langes Jahr“ die Menschen in einer Kleinstadt am Bodensee
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Sehnsüchtig sein heißt nicht wissen, wohin man möchte.“ Es ist kein Zufall, dass die österreichische Autorin Eva Schmidt zu Beginn ihres neuen Buches einen Satz von Robert Walser zitiert. Stofflich wie stilistisch schwebt sein Schatten über den insgesamt 38 Kapiteln, die sie in Ein langes Jahr zu einem losen Jahresroman verknüpft hat. In einem Alphabet von 1921 notierte Walser zum Buchstaben I: „I. überspringe ich, denn das bin ich selbst.“ In diesem Sinn schweigt sich auch die Ich-Erzählerin in Eva Schmidts Buch über die eigene Person aus. Lieber lässt sie die Blicke schweifen, um zu protokollieren, was um sie herum in der ungenannt bleibenden Stadt am Bodensee vor sich geht. Jahrelang hat sie allein mit ihrem Hund in einem kleinen Haus gewohnt, nun zieht sie in das Hochhaus gleich nebenan. Im Volksmund wird es das „Steckdosenhaus“ genannt, weil es früher einer Stromgesellschaft gehörte. Es dient ihr zukünftig als Hochsitz.
Hier wohnen auch der gehbehinderte Herr Agostini und Benjamin, der ihm manchmal den Hund ausführt. Benjamins Mutter schwankt zwischen prekären Jobs und Arbeitslosigkeit – ein Schwanken, das auch dem Weinkonsum geschuldet sein mag. Über den Freund ihres Sohnes lernt sie dessen reichen Vater kennen, doch die beiden kommen wohl nicht zusammen. Auf diese bestrickende Weise entfaltet sich ein gewöhnliches Alltagspanorama, das von den Blicken der Beobachterin zusammengehalten wird. Hunde sind in der Siedlung gewissermaßen das Medium, durch das zwischenmenschliche Kontakte gestiftet werden.
Mit Ein langes Jahr beendet Eva Schmidt eine langjährige Pause. Mitte der 1980er-Jahre wurde sie für ihren ersten Erzählband Ein Vergleich mit dem Leben mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 1989 mit dem Ernst-Born-Preis. Bis 1997 folgten eine Erzählung und der Roman Zwischen der Zeit, an den Ein langes Jahr anknüpft.
Vorsichtig und behutsam nähert sich die Autorin der Stadt und ihren Menschen. Ein narratives Epizentrum bildet das Kapitel „Menschen und Hunde“, in dem zwei Faltenwürfe einander überlagern. Die unpersönliche Beobachtung einer frühmorgendlichen Stimmung verschiebt sich nahtlos in eine Erzählphantasie: „Jemand stirbt. Nicht in diesem Moment, aber bald. Nehmen wir an, es ist eine Frau“, die im Sterben liegt und von ihrer Tochter Johanna besucht wird. Dieses „nehmen wir an“ weckt leisen Zweifel: Sind alle die Geschichten bloß der Imagination einer Erzählerin entsprungen und gar nicht dem Leben abgeguckt? Die kranke Frau verstärkt zudem eine früher aufblitzende Ahnung, als ein junger Mann seine Mutter ganz unvermittelt fragt: „Ma, du wirst doch nicht sterben, oder?“ Feine Bruchstellen erzeugen unter der Oberfläche seismografische Spannungen, die allmählich Angst, Unglück und Krankheit in diesen ruhigen Text einsickern lassen, ohne ihn jedoch aufzuwühlen. Die kräuselnde Grundtonart bleibt ein feines Moll, das auch heitere Töne zulässt.
So entstehen aus Beobachtungen und Stimmungen kleine Miniaturen, die sich mehr und mehr von der Erzählerin ablösen und ein Eigenleben entwickeln. Eva Schmidt tupft ihre Geschichten mit feinem Pinsel aufs Blatt und lässt drum herum viel Frei- und Leerraum. Die Miniaturen gleichen darin den Bildern der Künstlerin Karin, die Linien aufs Papier strichelt, die sich erst aus der Distanz als Gesichter und Figuren zu erkennen geben. Die meisten der Geschichten bleiben unabgeschlossen. Einzig Karin, die schwer erkrankt ist, erlöst sich selbst von ihrem Leiden. Um ihren Hund wird sich eine Freundin kümmern.
Eva Schmidt orchestriert ihre Geschichten subtil und dezent, indem sie zwischen ihnen nur lose Knoten knüpft. Im Hintergrund jedoch formt sich ein Netz von Motiven zu einem erzählerischen Flechtwerk, das die Autorin „Roman“ nennt. In ihm sind es nicht nur die Hunde, die Verbindungen schaffen, sondern es wird auch viel Saft und Wein getrunken, Kuchen gegessen und auf dem Balkon geraucht. Andere Blicke durchkreuzen die Beobachtungen der Erzählerin, die von Karin einmal als „ältere Frau in einem der oberen Stockwerke“ erkannt wird. Eine der Blickachsen führt weit hinweg in die kanadische Provinz, wo sich die Erzählerin über eine Webcam umsieht. Einmal vereinbart sie mit einem Freund aus Übersee eine Uhrzeit, zu der er sich vor die Webcam stellen soll. Als er winkt, winkt sie zurück – unerwidert für sich selbst.
Im Schlusskapitel begegnet die Erzählerin dem jungen Benjamin, der Karin gekannt hat und Herrn Agostini und viele mehr, wie sie erfährt. Vielleicht hat sie ihre Geschichten ja von ihm erfahren?
Eva Schmidts Ein langes Jahr ist ein ruhiges, ganz und gar unaufgeregtes Buch, das in keiner Weise auftrumpfen will. Ein paar beiläufige Klischees hätten sich vielleicht vermeiden lassen. In seiner Struktur erinnert es unweigerlich an Robert Altmans Short Cuts oder an Richard Linklaters Film Slacker. Am Schluss hört die Erzählerin Laurie Andersons Muddy River, worin alles den dreckigen Bach runtergeht – doch ein Blick in „deine Augen, zwei kleine Uhren zwei kristallene Kugeln“ genügt, um nochmals von vorne zu beginnen. Das Leben mag manchmal traurig sein, hoffnungslos ist es nicht.
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