Das Biest und ihr stummer Zeuge

A.F.Th. van der Heijden erzählt eine Parallelgeschichte zu seinem vielbändigen Zyklus „Die zahnlose Zeit“

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1983 begründete A.F.Th. van der Heijden mit dem Prolog De slag om de Blauwbrug (Die Schlacht um die Blaubrücke) seine epochale Sittengeschichte Die zahnlose Zeit. Inzwischen sind fünf weitere Bände hinzugekommen, in denen er die Geschichte seines Helden Albert Egberts von der Geburt am 30. April 1950, dem Königinnentag, bis ins Jahr 1986 erzählt. Nebenher ist ein „Intermezzo“ (wie van der Heijden es nennt) erschienen, eine Novelle über das kurze Leben von Alberts Cousin Robby, der ein Opfer seiner wilden Leidenschaft für starke Motoren wird. Auch der neue Roman Das Biest ist ein solches Intermezzo. Es erzählt von Alberts Tante Tiny, der Schwester seiner Mutter Hanny, geborene van der Serckt.

Tiny wird in der Familie wegen ihres sehr ausgeprägten Putzfimmels auch „Tientje Putz“ genannt. Von Natur aus eine adrette Erscheinung, trägt sie selbst zu eleganten Kostümen eine kurze Dienstmädchenschürze, in deren Tasche ein knallgelbes Putztuch verstaut ist. Wo immer sie auftaucht, macht Tiny davon Gebrauch. Das Tuch ist so etwas wie die grelle Signalfahne, mit der sie eine freilich diffuse Botschaft aussendet. Selbst der Ich-Erzähler Albert, der die nur zwölf Jahr ältere Tante von klein auf kennt und mag, kann sich keinen rechten Reim darauf machen. Klar wird aber bald, dass in Tante Tiny ein echter Teufel steckt, der innerhalb der Familie van der Serckt die verschwiegenen Konflikte aus dem Busch klopft. Wann immer sie im familiären Kreis auftritt, rührt sie Wahrheit und Lüge, Sein und Schein kräftig durcheinander und verbreitet Unfrieden.

So macht sie nicht nur den eigenen Eltern das Leben bis in den Tod schwer, auch Alberts Mutter Hanny wird von ihr mit verletzender Grausamkeit geplagt. Nicht zuletzt deshalb versucht Albert, der von Beruf Schriftsteller ist, das sonderbare Verhalten seiner Tante wenigstens zu beschreiben. Nach und nach kommt er so einem Ereignis auf die Spur, das Quelle für ihre Bösartigkeit sein könnte.

Das Biest ist ein Seitenteil zu den ersten zwei Bänden aus dem Zyklus Die zahnlose Zeit, die von Albert Egberts Kindheit und Jugend handeln. In Das Gefahrendreieck hat Tiny einen Kurzauftritt als „etwas boshaft veranlagte Tante“. Wie sehr das untertrieben ist, wird allerdings erst in diesem Roman klar. Das Biest entwirft ein wahres Panoptikum der innerfamiliären Händel und Demütigungen. Der Erzähler Albert bleibt dabei meist stummer Beobachter.

Umso glänzender wird in seiner Erzählung die stilistische Meisterschaft seines Autors erkennbar. A.F.Th. van der Heijden ist ein ungemein kraftvoller Erzähler, der sich förmlich hineinbohrt in seinen Stoff, um den Charakter der Figuren ganz aus der Handlung heraus plastisch werden zu lassen. Psychologie ist bei ihm kein narratives Gefängnis, sondern ein scharf gezeichnetes, hoch differenziertes Resultat von Handlung und Beschreibung. Entsprechend bewahren die Figuren ihren Eigensinn und gehen nicht einfach in einem Rollenschema auf. Ungeachtet all der schmerzlichen Wunden, die sie schlägt, widerfährt selbst Tante Tiny Respekt und Verständnis für ihr oft auch selbstzerstörerisches Handeln. Albert ahnt durchaus, dass es dafür Gründe geben muss.

Deshalb bewahrt ihr Porträt einen wunderbar ambivalenten Zug: Sie erscheint Albert gleichermaßen komisch wie boshaft sadistisch. Er verfolgt ihre Spuren und ihre Auftritte mit faszinierter Irritation. Je mehr er über seine Tante erzählt, desto weniger gelingt es ihm, von sich selbst abzulenken. Er bezeugt Szenen, die er eigentlich verhindern müsste, etwa wenn Tiny wieder einmal seine Mutter bis zur Unerträglichkeit triezt. Albert ist dem fiesen Spiel seiner Tante nicht gewachsen, zum einen weil er als kleiner Junge ihre Bösartigkeit nicht begreift, zum anderen weil er später seine „feige Halbherzigkeit“ nicht überwinden kann. In dieser seltsamen Passivität erkennen wir den notorisch handlungsunfähigen Albert Egberts aus der Zahnlosen Zeit wieder. Seine Passivität rechtfertigt er im Band Fallende Eltern damit, dass Mutters „fleischgewordenes Schuldbewusstsein“ ihm jegliches Vertrauen genommen habe. Deshalb, ließe sich folgern, unterlässt er es in der Tiny-Geschichte, sich schützend vor die Mutter zu stellen. Die Kreise schließen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Mit diesem dramaturgischen Kniff orchestriert van der Heijden seine Familiengeschichte über Liebe und Hass und bettet sie mit meisterhafter Souveränität in den großen Zyklus ein. Wiederholt deutet Albert an, dass er dies oder jenes bei anderer Gelegenheit schon mal erzählt habe. So lässt sich Das Biest problemlos als eigenständige Parallelgeschichte lesen, die zugleich diskret im Gesamtzyklus vertäut ist.

In Anwalt der Hähne, Band vier der Zahnlosen Zeit, endet die Erzählung von Albert im Jahr 1986, als er sich in Zwanet, die Frau seines Anwalts Ernst Quispel, verliebt. Gewissermaßen hinterrücks führt Das Biest die Geschichte über diesen bisherigen Endpunkt weiter bis ans Jahrtausendende. Albert hat sich nach turbulenten Jahren gefangen und ist inzwischen mit Zwanet verheiratet, sie haben ein gemeinsames Kind und eine Stieftochter. Nach Tinys Tod soll er die Trauerrede halten, „es darf ruhig was zum Lachen sein“, wie ihr Ehemann Koos meint. Auf diese Weise lässt das Roman-Intermezzo den weiteren Verlauf des Gesamtprojekts Die zahnlose Zeit erahnen, das dem ursprünglichen Plan gemäß mit Alberts 50. Geburtstag im Jahr 2000 seine Vollendung finden wird. Sollte es so etwas geben wie die Great European Novel, A.F.Th. van der Heijden schreibt daran. Und Albert Egberts ist der Held unserer Zeit.

Titelbild

A.F.Th. van der Heijden: Das Biest. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
303 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425558

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch