„in den Gewässern Träume-reich“

In der Anthologie "Im Flug der Harpyie" zeigen indigene AutorInnen aus Brasilien, dass ihre Literatur erst besonders kraftvoll wird, wenn sie nicht unsere Stereotypen bedient

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dorothea Nürnberg und Olívio Jekupé lassen mit ihrer Anthologie indigener Poesie und Prosa aus dem brasilianischen Regenwald nun Stimmen zu Wort kommen, die normalerweise kein Gehör in der Weltliteratur finden, obwohl sie von einem unerschöpflichen kulturellen Reichtum und von einer Wirklichkeit erzählen, die für uns die Authentizität einer fernen Utopie in sich trägt. Auch wenn zahlreiche brasilianische Indigene nun gezwungen sind, „[a]uf der Straße, unter Brücken, in Städten, / in Plastik-gedeckten Barracken / an den Ufern der Flüsse, an Straßenrändern“ zu leben, wie es die Autorin Delasnieve Miranda Daspet de Souza in ihrem Gedicht Dieses Land gehört bereits jemandem! festhält, fließt in den Adern der brasilianischen Ureinwohner noch das Blut ihrer Ahnen und die Traditionen leben in ihren Seelen fort. Wie lange es ihnen jedoch noch gelingen wird, ihre Mythen und Gebräuche in ihrem Inneren vor dem Vergessen zu bewahren, ist ungewiss; umso entscheidender, dass die literarischen Stimmen der heutigen indigenen Generation Brasiliens angehört und gelesen werden: „Ach, Mutter Natur, / wie lange werden unsere Verwandten / noch leben? / Werden sie vollkommen ausgelöscht? / Oder werden die juruá kuery[1] / doch noch vernünftig / und alle in Frieden leben lassen?“.

In dem beigefügten kulturanthropologischen Kommentar schreibt Helmuth A. Niederle, dass die Indigenen nach der Kolonisation zur Projektionsfläche unterschiedlicher religiöser beziehungsweise ideologischer Vorstellungen wurden. So galten sie als grobschlächtige Wilde, in denen das Fortwirken des paradiesischen Sündenfalls anschaulich gemacht wurde, aber auch als glückliche Individuen, die im Schutz der tosenden Flüsse und glücklich in ihrer Bedürfnislosigkeit ihr Leben gestalten konnten. In Im Flug der Harpyie wird die Projektionsfläche nun gekippt, die Projektionen als solche entlarvt und das, was hinter dieser Fläche verborgen blieb, tritt in Erscheinung: Die jungen Menschen, die den verschiedensten indigenen Stämmen angehören, lassen sich nicht in sehnsüchtige Wunschvorstellungen nach einem vergangenem Harmoniezustand eingliedern oder an einem Ort fixieren, der durch Unmündig- und Rückständigkeit bestimmt ist, sondern weisen eine Diversität auf, die sich jeder Festschreibung entzieht. Während einige noch ihr traditionelles Leben weiterführen können, leben andere schon im urbanen Raum, an dem fast nichts mehr an ihre ursprüngliche Daseinsform erinnert. Dies ist nach dem brasilianischen Schriftsteller Paulo Scott, der das Vorwort zu dieser Anthologie verfasste, dann auch das Besondere der in Im Flug der Harpyie zusammengestellten Anthologie. Die vorgestellten Autoren unterwürfen sich eben nicht den Anforderungen des Literaturmarktes, bestimmte Klischees oder erzählerische Ästhetiken zu erfüllen, sondern es handele sich um Literatur, fernab der Etiketten ,brasilianische Literatur’ oder ,indigene Literatur’. Diese Literatur entspräche dem, so Scott, was man von Weltliteratur erwarte: „Literatur die einfach ist und zugleich machtvoll, fähig, Widerstand zu leisten, Literatur, der es gelingt, sich durch Raum und Zeit auszubreiten, dauerhaft zu bestehen.“

Und es stimmt: Es handelt sich bei der vorgenommenen Auswahl keineswegs um literarische Erzeugnisse, die bestimmte Klischees erfüllen wollen, sondern um authentische Literatur, die dreierlei Handlungen vollzieht: Erstens erzählt sie von der indigenen Lebensweise, die sich entweder noch auf dem „teefarbenen Wasser“ der Flüsse abspielt, oder schon in die moderne Daseinsform ,gepresst’ wurde. Zweitens stellt sie eine Auseinandersetzung mit der indigenen Lebenswirklichkeit dar, die vielleicht sogar in einer kritischen Reflexion der Einstellung des Rezipienten mündet, und drittens werden Texte produziert, die es aufgrund ihrer ästhetischen Qualität verdienen, dass man sie als Literatur bezeichnet.

Claude Lévi-Strauss schrieb in Tristes Tropiques (deutsch: Traurige Tropen), dass man sich, wolle man den Menschen verstehen, nicht damit begnügen dürfe, eine einzige Gesellschaft zu erfassen oder ein paar Jahrhunderte der westlichen Welt. Mit dieser Anthologie wird uns nun die Möglichkeit gegeben, an die Stelle von verklärten Vorstellungen Eindrücke der aktuellen Situation der brasilianischen Indigenen zu setzen. Es werden nicht mehr Eindrücke geschildert, die Europäer von indigenen Lebenswirklichkeiten gewonnen haben, sondern die Ureinwohner kommen selbst zu Wort. In Brasilien wird der indigenen Literatur immer noch kaum Beachtung geschenkt; dies wird sich – so erhofft es sich jedenfalls Herausgeber Olívio Jekupé – mit dem Erscheinen dieser Anthologie ändern. Denn es ist eine kraftvolle Poesie, die sich in dieser vielfältigen Auswahl entfaltet.

[1] juruá kuery – „Weiße“.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Dorothea Nürnberg / Olívio Jekupé (Hg.): Im Flug der Harpyie. Indigene Poesie und Prosa aus dem brasilianischen Regenwald.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Erika Maria Heiss Lopes und Dorothea Nürnberg.
Löcker Verlag, Wien 2015.
149 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783854097761

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