Wenn der Leser selbst den Roman schreibt…

In „Duchamp in Mexiko“ imaginiert César Aira eine erweiterte Form des komplizenhaften Lesers Julio Cortázars

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Lektüre von Duchamp in Mexiko bleibt wahrscheinlich selbst ein geübter Leser des argentinischen Autors César Aira, einer der innovativsten und international meist beachtetsten zeitgenössischen Autoren des Landes, etwas ratlos zurück, da Aira hier seine ungewöhnlichen und unerwarteten Spekulationen auf die Spitze treibt. So war man von Romanen wie Die Nächte von Flores oder Der Literaturkongress zwar bereits an das Ungewöhnliche seines Schreibens gewohnt – kein Ereignis ist vorhersehbar –, mit Duchamp in Mexiko hat Aira jedoch nicht auf Handlungsebene Aberwitziges erfunden, sondern sich poetologischen Reflexionen hingegeben, die abstrus und genial unter anderem zukünftige Leserrollen konzipieren. 

Bereits in Continuación de ideas diversas versammelte Aira Ereignisse, Erinnerungen, Anekdoten, Scherze und andere Zufälle, die in seinen vorherigen Texten keinen Platz gefunden hatten. Auf dem diesjährigen Internationalen Literaturfestival in Berlin berichtete Aira selbst, dass es in seinen literarischen Texten zu zahlreichen theoretischen und philosophischen Überlegungen käme; mittels der in Duchamp in Mexiko angestellten Reflexionen habe er versucht, die Romane von diesem theoretischen Ballast zu befreien. Auch wenn die in diesem Band zusammengestellten Texte von den Herausgebern als essayistische Schriften bezeichnet würden, fielen diese nach Aira eher in die Kategorie der Chronik: Genauer handele es sich bei In Havanna um eine chronistische Schrift, Duchamp in Mexiko sei ein Zeugnis seiner eigenen Verrücktheit, während man den Text Über zeitgenössische Kunst noch am ehesten als essayistischen bezeichnen könne. 

Und es stimmt: Die vorliegenden Texte scheinen Fluchtlinien zu sein, die während des Verfassens eines Romans vom Aira angedacht wurden, nun aber erst zur vollen Realisation gelangten. Die drei in Duchamp in Mexiko zusammengeführten Texte berichten von unterschiedlichen Erlebnissen – von einer Reise nach Mexiko, die sich als aberwitzige Suche nach der immer gleichen, aber billigeren, Ausgabe eines Buches über Marcel Duchamp herausstellt, den Besuch im Haus des Schriftstellers José Lezama Lima und Überlegungen über das Spezielle der zeitgenössischen Kunst –, aber in all diesen Texten steht zweierlei im Mittelpunkt: die Poetologie seines eigenen literarischen Schaffens und die Frage nach der Möglichkeit der Innovation in der Literatur, in Zeiten, in denen eigentlich alles schon erzählt zu sein scheint. 

So bilden Fragen folgender Art den Gegenstand der in diesen Texten angestellten Überlegungen: „Kann überhaupt noch Kunst gemacht werden, wenn Autoren wie Balzac, Tolstoj oder Dostojewski bereits deren Vollendung vollzogen, die Literatur bis in ihre Perfektion getrieben haben?“, „Wie können Geschichten imaginiert werden, die wirklich Neues entstehen lassen und nicht nur psychologische Erklärungen suchen oder Ideologien oder Diskurse abbilden?“, „Wie sollte sich beim Erschaffen von Kunst das Verhältnis zwischen Rezipient und Künstler gestalten? Sollte es diesbezüglich zu einer stärkeren Ausrichtung auf den Adressaten kommen, ihm die gleiche Aktivität wie dem Schriftsteller abverlangt und zugesprochen werden?“ oder „Gibt es Szenen, Gegenstände, Ideen oder Figuren in literarischen Texten, die dem diskursiven Denken unzugänglich bleiben und somit eigenständig und im Jenseits der sprachlichen Struktur existieren?“. 

Im ersten Text Duchamp in Mexiko fordert Aira den Leser heraus, indem er an diesen Ansprüche stellt, die über Julio Cortázars Bedürfnis nach einem aktiven Leser hinausgehen. Während der Autor von Rayuela einen Leser im Sinn hatte, der als Komplize des Autors fungiert, indem er am Experiment des Romans aktiv teilhat und den Text in Koproduktion mit dem Schriftsteller mit Sinn befüllt – un lector cómplice –, verzichtet Aira als Autor gänzlich darauf, in die literarische Form einen Inhalt zu gießen. Das, was er dem Leser an die Hand gibt, ist lediglich noch das Schema – die formale Skizze – für einen literarischen Text, den der Leser am Ende selbst schreiben soll: „Ein Schema für einen Roman zum Ausfüllen, wie ein Malbuch. So dass er [der Leser bzw. der künftige Schriftsteller] sich mit einem Heft und diesem schmalen Bändchen […] in sein Hotelzimmer einschließen und Unterhaltung genießen kann, garantiert kreativ, ohne die Unannehmlichkeit, dass er anfangen muss, etwas zu erfinden.“

Aira scheint hiermit etwas abstrus das auf die Spitze zu treiben, was bereits Sartre in Was ist Literatur? im Sinn hatte, als er schrieb, dass der Vorgang des Schreibens als dialektisches Korrelativ den Vorgang des Lesens mit einschließe und diese beiden zusammenhängenden Akte zwei verschieden tätige Menschen verlange. Erst die vereinte Anstrengung des Autors und des Lesers lasse, so Sartre, das konkrete und imaginäre Objekt entstehen, das das Werk des Geistes ist: „Kunst gibt es nur für und durch den anderen“. Auch für Roland Barthes besteht die Arbeit des literarischen Schreibens nicht mehr darin, einen passiven Konsumenten, der es sich in seinem grünen Ohrensessel gemütlich gemacht hat, mit einer Ware zu beliefern, so wie es Cortázar in seiner berühmten Kurzgeschichte Continuidad de los parques kritisch darstellt. Der Leser selbst solle sich als Produzent des Textes begreifen. Indem Aira diese Forderungen nach einem aktiven Leser in ihr Extrem laufen lässt, gelingt es ihm einen möglichen Ort in der Zukunft zu imaginieren, an dem die Romane nicht mehr vom Schriftsteller, sondern vom Leser geschrieben werden. Der Autor liefert lediglich noch das Schema, so dass die lesende Person wie beim Malen nach Zahlen zwar Richtungen gewiesen bekommt, diese aber selbst diejenige ist, die das Gemälde beziehungsweise den Text Wirklichkeit werden lässt: „Kommen wir zu den Zahlen, sie reichen, um das Schema herzustellen. Jeder, der auf der Grundlage dieses Schemas einen Roman schreibt, wird dafür Sorge tragen, es mit Fleisch und Blut und mit den Tränen der Phantasie zu erfüllen, wo ich ein abstraktes Zeichen setze, den Punkt, durch den die Kurve gezeichnet wird oder auf den sich das Volumen stützt. Da, wo er eine Fünf sieht, setzt er ein Lächeln ein, für eine Neun einen Schuss in der Dunkelheit, für eine Sechs die Liebe…“ 

In In Havanna situiert sich César Aira bezüglich seiner innovativen Art, Geschichten zu imaginieren, selbst in jener Zeit des kunsthistorischen Umbruchs, der durch Marcel Duchamp, John Cage und Raymond Roussel ausgelöst wurde, indem er aufzeigt, wie verschieden diese Künstler – aber auch er als ein Schriftsteller, der ihren Fährten folgt – auf reale Gegenstände in ihrer Umgebung mit ihren Werken reagieren: Während Lezama Lima Gegenstände lediglich dazu benutze, um diese in seinen literarischen Texten zu beschreiben und psychologisch generierte Erzählungen auszuschmücken, dienten real existierende Gegenstände den oben genannten Künstlern – aber auch Aira selbst – dazu, etwas gänzlich Neues zu erschaffen.

Roussel beispielsweise entwickelte eine Vorgehensweise innovative Kombinationen zu schaffen, indem er Wörter, die auf semantischer Ebene keinen direkten Zusammenhang aufwiesen, aber auf klanglicher Ebene Äquivalenzen aufzeigten, inhaltlich miteinander in Relation setzte. Duchamp griff dieses Prinzip auf, indem er zum Beispiel unter das Abbild eines Flakons die Worte „Eau de Voilette“ schrieb, wodurch er dem Betrachter dessen Verankerung in gewohnheitsmäßigen Assoziationen vor Augen führte, da dieser unweigerlich den Drang verspürt, „Voilette“ durch „Toilette“ zu ersetzen. César Aira erfindet seine Geschichten auf ähnliche Weise, indem er mit dem Erwartbaren bricht und Elemente kombiniert, die in unserer gewohnheitsmäßigen Gedankenverbindungen keinerlei Zusammenhang haben. Seine literarischen Erzählungen beruhen nicht mehr auf Erinnerungen oder psychologischen Erklärungen – wie dies bei Tolstoj, Dostojewski, Balzac und Flaubert noch der Fall war –, sondern die freie Kombination von unzusammenhängenden Ereignissen gilt nun als Triebkraft seiner vorwärtspreschenden Erzählungen, bei denen der Autor selbst nie weiß, was als nächstes geschehen wird: „Verallgemeinert gesagt, kann eine Erzählung nicht nur aus der Phantasie oder der Erinnerung oder sonst irgendeiner psychologischen Wirkkraft hervorgehen, sondern auch aus dem narrativen Ordnen und Organisieren von Elementen oder »Figuren«, die aus der Außenwelt stammen und auf gut Glück zusammengestellt werden.“ 

Ob man am Ende der Lektüre von Duchamp in Mexiko etwas ratlos zurückbleibt, weil es einem zum Beispiel nicht gelingt, ganz zu durchdringen, wie genau ein Roman aussehen sollte, der lediglich noch ein Schema zum Ausfüllen für den Leser darstellt, ist nicht wichtig. Wichtig ist, sich einfach auf das abstruse Spiel der Reflexionen einzulassen; denn um neue Wertvorstellungen zu schaffen, müssen zunächst die alten durchbrochen werden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

César Aira: Duchamp in Mexiko.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
131 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957571397

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