Sebald in den Schweizer Alpen

Wandern am Rande des Abgrunds mit Miek Zwamborn

Von Beatrix van DamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beatrix van Dam

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erdrutsche und Kontinentalverschiebungen spielen eine besondere Rolle im deutschsprachigen Debüt der niederländischen Schriftstellerin Miek Zwamborn. Sie zeigen, wie plötzlich oder auch allmählich alles entgleiten kann. Der Roman selbst kann als eine Verschiebung gelesen werden. In ihr wird ein um persönlichen und kollektiven Verlust kreisendes Erzählen, wie W.G. Sebald es geprägt hat, neu situiert. Dabei ergeben sich Perspektiven, die so faszinierend sein können wie der Blick in eine tiefe Schlucht.

Der Titel der deutschen Übersetzung des Romans, das Postkartenzitat Wir sehen uns am Ende der Welt, lässt zunächst einmal vage auf eine abenteuerliche Liebesgeschichte schließen. Wer das Buch mit dieser Erwartung liest, wird enttäuscht sein. Der niederländische Titel, De duimsprong, deutet schon eher an, was in diesem Roman passiert. Der „Daumensprung“ verweist auf die Art, in der Wanderer versuchen, mit Hilfe ihres Daumens einen Abstand im Gelände einzuschätzen. Mit diesem riskanten Versuch, den eigenen Körper als Messinstrument mit der Gebirgslandschaft in Einklang zu bringen, befinden wir uns inmitten des Romangeschehens. Erschrocken stellt die (weibliche, wie uns nur der Klappentext verrät) Erzählerin in einer ersten Schlüsselszene des Textes während einer Bergwanderung fest, dass ihr Freund Jens, mit dem sie immer wieder auch gefährliche Bergbesteigungen unternimmt, sich mit der Daumenmethode nicht unwesentlich verrechnet hat. Wenn sie versucht, ihn wegen dieses Fehlers zu beschwichtigen, tut sie dies „wohl wissend, dass uns ein solcher Irrtum unter anderen Umständen zum Verhängnis werden könnte“. Die Lesenden beschleicht schon an dieser Stelle die unheimliche Ahnung, dass die romantische Idee, durch das Wandern mit der Landschaft eins zu werden, hier nicht harmonisch aufgehen wird.

Die Katastrophe folgt, wie alles in diesem Roman, nicht auf dem Fuß, sondern mit der Verzögerung, von welcher Menschen berichten, die ihre Wahrnehmung während eines Auffahrunfalls beschreiben: Plötzlich scheint, was in Bruchteilen von Sekunden geschieht, wie in Zeitlupe ins Bewusstsein zu dringen. Der Schreck schärft die Sinne, angesichts des Grauens flüchtet sich das Auge ins Detail. Nicht nur dieses Erzählverfahren erinnert an Sebald, auffälligste Reminiszenz an den deutschen Autor sind die Fotos und Abbildungen, mit denen der Text geradezu durchsetzt ist. Neben direkten Motivvariationen wie dem Foto von ausgestopften Vögeln (bei Sebald sind es Schmetterlinge), gelingt es der Autorin, die Sebald’sche Motivik in die Bergwelt zu übersetzen. So fasziniert das Auge der Erzählerin das Detail der Schuhsohle des berühmten Schweizer Geologen Jacob Albert Heim, der sich 1887 während einer Wanderung mit seinen Studierenden auf einem Gruppenfoto ablichten lässt. Mit genau hundertfünfzehn Nägeln ist die Fußsohle des Geologen gespickt, beobachtet die Erzählerin und sieht diese als „Ankündigung und Überbleibsel von Heims Anwesenheit in der Landschaft“. In diesem Bild zeigt sich das Hauptanliegen des Textes, die Suche nach den Spuren von dem, was einmal war. Dabei ist die Hoffnung, dass nichts wirklich verschwindet. Die Suche wird von einer persönlichen auf eine historische und im Kontext dieses Romans sogar erdgeschichtliche Ebene sublimiert.

Wenn der Roman in diesem Sinne Erzählmotivation und -motivik mit Sebalds Erzählungen teilt, geschieht dies jedoch in einem deutlich anderen Kontext. Ein bisschen macht sich die Erzählerin über die Sebald’sche Unschärfe vielleicht auch lustig, wenn sie ein völlig unkenntliches Foto mit dem Satz versieht: „Auf diesem Foto, das Silvio im Bergwerk von Jens und mir schoss, sind wir leider nicht gut zu erkennen“. Hier ist wirklich kein Unterschied mehr zwischen Stein und Mensch. Sprachlich – und von Bettina Bach stilsicher ins Deutsche übertragen – ist die Erzählung schlichter und zeitgenössischer als Sebalds Satzspiralen. Die Autorin weiß dräuendes Unheil mit Sätzen anzudeuten, die wie eine erste, geringfügige Verfärbung des Himmels ein kommendes Unwetter ankündigen: „Es kam öfter vor, dass Jens lange nichts von sich hören ließ.“ In ihrer prägnanten Kürze können die Sätze klaustrophobisch wirken: „Von allen Seiten drang das Gefühl des Verlusts auf mich ein“. Ein Kapitel gibt sich die Autorin, um die Lesenden von der Singularität der Erfahrungen, welche die Erzählerin in den Bergen mit Jens teilt, zu überzeugen. Ab dem zweiten Kapitel tut sich der Abgrund auf, den Jens‘ spurloses Verschwinden für die Erzählerin darstellt und welcher der abschüssige Grund ist, aus dem sich ihr Erzählbegehren nährt. Jens und sie sind so ungleich wie der Wanderer und der Berg, den er besteigt. Und doch gibt es eine tiefe Anziehungskraft zwischen den beiden, die mit Jens‘ Verschwinden umschlägt in eine lähmende Verlusterfahrung. Damit wäre eine weitere Verschiebung benannt, die sich ergibt, wenn eine weibliche Erzählerin den Verlust ihres Freundes verarbeitet. Denn auch wenn es nirgendwo ausgesprochen wird, streift die Erzählung hier doch eine nicht entfaltete Liebesgeschichte, die ihr eine erotische Spannung gibt.

Jens‘ Verschwinden lenkt die Erzählung in eine andere Bahn: Jacob Albert Heim, der zuvor nur nebenbei erwähnte Pionier der Geologie im 19. Jahrhundert, wird zum neuen Weggefährten der Erzählerin und zur neuen Hauptfigur des Romans. Die persönliche Suche der Erzählerin nach Jens vermischt sich dabei doppelt mit einer historischen Recherche: einerseits nach Spuren des Lebens von Heim in Archiven und Museen, andererseits zusammen mit dem Geologen Heim nach Spuren der Erdgeschichte, für die ein Gebirgsmassiv wie die Alpen nicht mehr als eine Fußnote ist. Wie selbstverständlich treten hier Vergangenheit und Gegenwart nebeneinander. Von nun an werden die Wanderungen, jetzt von der Erzählerin allein und ohne großen Respekt vor Risiko unternommen, verschränkt mit dem Eintauchen in Archiven und Museen, denen sich die Erzählerin genau so anvertraut wie dem Berg bei dem Besuch einer Mine mit Jens. Während sie langsam ahnt, dass sie in Bezug auf Jens vom schlimmsten Fall ausgehen muss, studiert sie voller Hingabe die Alpenmodelle, mit welchen Heim in detaillierter Nachbildung die Erdgeschichte physisch nachvollziehbar zu machen suchte.

Heim wird zu einer Art Erlöserfigur, die hilft, das Unbegreifliche greifbar zu machen. Etwas nicht sehen zu können, bedeutet nicht, dass es nicht da ist. Heim zeigt, wie das Gebirge unter der scheinbar unbeweglichen Oberfläche in Bewegung ist: Die Jahrtausende werden auch die Alpen glattstreichen. In Erdrutschen deutet sich diese große Bewegung der Erdoberfläche an. Im Gestein geht dabei keine Bewegung verloren, alles hinterlässt Spuren. In den Erdschichten ist alles nachlesbar, konserviert, selbst die Blitze materialisieren sich in den Steinschichten als ‚Fulguriten‘, denen ein eigenes Kapitel (mit Abbildungen) gewidmet ist. Das Gebirge selbst wird zu einer gigantischen Chronik, die sich lesen lässt, wenn man ihre Sprache versteht. Materialität hat hier nichts Oberflächliches mehr – wenn das Wandern in Jens‘ Wahrnehmung dem Anzünden eines Feuerwerks gleichkommt, das Kopf und Körper einen Stromschlag versetzt, wenn die Erzählerin den eigenen Körper als „lebendes Archiv zahlloser Bewegungen“ beschreibt, dann ist der Berg versteinerte Energie.

Wie der Roman anhand von Mary Anning, ebenfalls Geologin des 19. Jahrhunderts, vorführt, lässt sich nicht trennen zwischen dem Präparieren von Fossilien und der Sorge um die Toten. Das Messen der Erderhebungen, die Faszination für Alpenmodelle, Steintableaus („Steine, die Steine imitieren“) und Karten sind ein Bedürfnis nach dem Erfassen und Festhalten, auch wenn dies immer wieder scheitern kann wie Jens‘ verfehlter „Daumensprung“ oder der noch dramatischere, auch den Fakten entgleitende Sturz in die Tiefe der Seiltänzerin Maria Spelterini, die als erste Frau die Niagarafälle überquerte. Zwamborns Roman dreht sich nicht wie bei Sebald um die Schrecken des Zweiten Weltkriegs als Fluchtpunkt, vielmehr nimmt hier die Erdgeschichte alle menschlichen Verlusterfahrungen vorweg und beinhaltet sie. Für Heim ist die „Geologie das Auge der Geschichte“, denn die „Landschaft sieht alles“. Die Erde beobachtet den Menschen und nicht umgekehrt.

Die Nachbildung und Kartierung der Gebirge ist auch ein Versuch, diese noch umfassender als beim Wandern erfahrbar zu machen. Gleiches gilt für das Erzählen von Geschichte. Für die Erzählerin ist nicht die Grafschaft Suffolk, sondern die Stadt Lyme Regis in der Grafschaft Dorset in England ein Pilgerort, zu dem sie mehrfach zurückkehrt. Ein letzter Erdrutsch markiert den Wendepunkt, an dem ihr zumindest ansatzweise das Loslassen gelingt. Dieses Mal geht es um einen Erdrutsch im Jahr 1839, bei dem die Ländereien einer englischen Bauernfamilie verwüstet werden. Der Erzählerin reicht die „zum Stillstand gekommene Landschaft“ unter der Glasglocke im Museum nicht. Im Gespräch mit einer Augenzeugin schafft sie eine Erzählung der Katastrophe, in der die Geschichte erfahrbar wird wie das Essen, dessen Bereitung und Verzehr im Roman immer wieder beschrieben wird. Die Erzählung kulminiert in der Beschreibung eines Huts, der in den Abgrund segelt, wieder aufsteigt und von einem der Katastrophentouristen auf dem Kopf eingefangen wird. Die Bauernfamilie inszeniert die Katastrophe im Nachhinein, fängt sie ein wie in einer Erzählung und macht sie aus sicherem Abstand nachvollziehbar. Die Simulation lässt den Blick in die Tiefe zu, macht die Bewegung unter der Oberfläche sichtbar.

Es ist verführerisch, die Lektüre des Romans selber mit einer Wanderschaft, mit einer gefährlichen Bergbesteigung zu vergleichen. Was aber bedeutet es, wenn Zwamborn die Pilgerreise in Suffolk in die gebirgige Landschaft der Schweizer Alpen verlegt? Es tun sich neue Abgründe auf. Nichts verschwindet, und so hallt auch Sebalds Echo nach und führt mitunter zu so eigensinnigen Gebilden wie diesem Text, in dem einem Sebald streckenweise als weiblicher Wandergefährte zu begegnen scheint. Da ist es dann doch, das Gefühl auf einem Berg zu stehen. Und die Aussicht zu genießen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Miek Zwamborn: Wir sehen uns am Ende der Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Bettina Bach.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2015.
272 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783312006656

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